Albanien zurück am Katzentisch

Mit dem Wahlsieg von Fatos Nano beginnt die Ära des kapitalistischen Sachzwangs

Die Erkenntnis des chilenischen Generals Pinochet, die Demokratie müsse gelegentlich in Blut gebadet werden, um sie zu retten, wurde seinerzeit von Linken und Liberalen unisono als zutiefst inhumanes Bekenntnis eines notorischen Gewaltmenschen gegeißelt. Daß der gelehrige Schüler von freedom and democracy nur eine banale Wahrheit über Macht und Herrschaft im Zeitalter des demokratisch organisierten Warentauschs aussprach, konnte damals nicht wahr sein, weil es in der Konkurrenz von westlicher Demokratie und östlicher Volksdemokratie nicht wahr sein durfte. Vergessen schien, daß der deutsche Sozialdemokrat Gustav Noske die demokratischen Erfordernisse schon 1919 auf ähnliche Weise in Wort und Tat zum Ausdruck gebracht hatte.

Heute scheint in den Ländern, die von Pinochet und seinen Kollegen auf den Weg der demokratischen Tugend gebracht wurden, keiner mehr an den Segnungen des globalen freien Marktes zu zweifeln. So harmonisch scheint es dort inzwischen zuzugehen, daß deutsche Beobachter, wie die Korrespondentin des Tagesspiegels, ihrer Leserschaft verkünden, "daß südamerikanische Staaten (...) nach Jahren blutiger Militärdiktaturen die Uniformierten in die Kasernen zurückschickten". Das "zurückschickten" sollte man sich auf der Zunge zergehen lassen. Es evoziert nämlich die Vorstellung, die uniformierten Killer seien gleichsam gesamtgesellschaftlich "herbeigerufen" worden, etwa mit der Bitte: "Herr General, befreien Sie uns von dem Krebsgeschwür des Sozialismus, von Chaos und Anarchie."

Ist die marktwirtschaftliche Ordnung erst einmal auf die bekannte Weise gefestigt und meldet sich kein ernsthafter Kritiker mehr zu Wort, ohne daß ihm postwendend das Stigma des gemeingefährlichen Utopisten und Terroristen mit allen sozialen und polizeilichen Konsequenzen an den Hals gehängt wird, darf gewählt werden. Mit der Teilnahme an Wahlen besiegeln die Verlierer der Marktwirtschaft ihren Ausschluß vom gesellschaftlichen Reichtum und bestätigen ihre kapitalistische Bestimmung als dienstbare Geister der für das sogenannte nationale Wohl produktiven Gesellschaftsklassen. Vorausgesetzt, ihre Dienstbarkeit wird überhaupt nachgefragt. Das Spektakel zweier solcher Wahlen - in Albanien und Mexiko - wurde jüngst einem dankbaren zivilgesellschaftlichen Publikum zur Aufführung gebracht.

Das spektakulärere Ereignis war zweifellos das in Albanien. Dort fehlte ein pinochetscher Retter von Freiheit und Demokratie. Die Folge davon war, daß große Teile der albanischen Bevölkerung den Platz am Katzentisch des europäischen Reichtums nicht akzeptierten, der ihnen in der "neuen Weltordnung" nach Maßgabe ihrer Produktivität zugewiesen war. Die Leute nahmen sich die Dinge, die sie brauchten, öffneten die Gefängnisse und vertrieben weitgehend die Regierung.

Daß dies so einfach geht, jagte den Anhängern der Zivilgesellschaft einen gehörigen Schrecken ein. Die "internationale Gemeinschaft" bewaffnete eilends eine Friedenstruppe, um "Chaos und Anarchie" zu beseitigen.Außer Waffen hatten die internationalen Friedensstifter auch Wahlzettel im Marschgepäck. Mit diesen wurde erwartungsgemäß das autokratische Berisha-Regime abgewählt und eine demokratische Regierung unter Führung der Sozialisten installiert. Berisha, der ehemals vom Westen gestützte Musterdemokrat, ist mittlerweile zurückgetreten, und die Friedenstruppe kehrt nach getaner Arbeit nach Hause zurück. Mit einer Wahlbeteiligung von immerhin 70 Prozent verzichteten die ehemals aufständischen Albaner auf ihre zuvor handfest geltend gemachten Ansprüche. Sollten sie diese jemals wieder anmelden, werden sie wohl nirgendwo auf Verständnis stoßen, sondern einen ebenso handfesten Nachhilfeunterricht in Demokratie erhalten. Von jetzt an haben sie mit der nunmehr demokratisch legitimierten Gewalt der sozialistischen Regierung und ihrer internationalen Paten zu rechnen.

"Postkommunistisch" gewendeter Chef der albanischen Sozialisten und damit einer, der sich den Wahlsieg wie einen Orden an die Brust heften kann, ist Fatos Nano. Für seine mittlerweile akzeptierte Bewerbung als Ordnungsstifter fertigten deutsche Meinungsbildner unlängst den passenden Lebenslauf. Hatte es noch im Frühjahr geheißen, der prominenteste Häftling des Berisha-Regimes sei während der Unruhen mit 500 anderen Gefangenen geflohen, sei also ein Nutznießer von Chaos und Anarchie, gilt nun eine dem wehrhaften Demokraten würdigere Version. Ende März meldete die Süddeutsche Zeitung, die Gefängnisleitung habe Nano "in einem Krankenwagen nach Hause bringen" lassen. In Sachen Anarchie mußte er sich also nichts mehr vorwerfen lassen.

Noch schöner für die Bewerbung als Statthalter westlicher Freiheit war dann die Fassung des Berliner Tagesspiegel: "Als die Revolte nach zwei Tagen abflaute und der Gefängnisdirektor zurückkehrte, traf er als einzige Häftlinge den früheren stalinistischen Staatschef Ramiz Alia und Fatos Nano an. Brav saßen sie in ihren unverschlossenen Zellen. ÝIch bin zwar unschuldig - aber zu fliehen, das wäre gegen das Recht gewesenÜ, erklärte Nano dem erstaunten Justizbeamten."

Welch ein Vorbild an demokratischer Selbstunterwerfung! Zwar billigt selbst das bürgerliche Recht dem Gefangenen das nicht strafbewehrte Bedürfnis nach Flucht zu, doch dem Märtyrer ist das egal. Und Märtyrer gehen - einmal zur Macht gelangt - mit dem Schicksal der ihnen Ausgelieferten mindestens genauso rücksichtslos um wie mit dem eigenen. Der Westen weiß, was er an diesem zu Markt und Demokratie konvertierten Überzeugungstäter hat. Bekanntlich forderten die südalbanischen Aufständischen lange Zeit "Berishas Kopf". Die Erfüllung dieser Forderung erhoben sie zur Vorbedingung jeglicher Verhandlungen. Wenn sie nun, nach den Wahlen, sinnvollerweise noch auf dem von Nano bestehen sollten, kann sie das selbst eine Menge Köpfe kosten.

Fatos Nano stammt wie Cauhtémoc C‡rdenas - "Mexikos Gegenkaiser", wie ihn die FAZ nach dem Vorbild von August Bebel, der Symbolfigur des autoritär-integrativen Sozialismus, betitelte - aus der alten, an die Grenzen ihrer autokratischen Herrschaft gestoßenen Staatspartei. Beiden gemeinsam ist auch die Einsicht in die Überlebtheit einer nationalen, protektionistischen Politik und das Wissen, daß die Ursprungsparteien, so sehr sie auch durch den Abbau "nationaler Errungenschaften" die globalen Standards von Armut und Arbeit bereits durchsetzen halfen, aufgrund von Tradition und Struktur den neuen Anforderungen nicht mehr gewachsen sind. "Das Ende der Ära einer Partei, die länger währte als die der KPdSU!" jubelt der Freitag angesichts der Niederlage der mexikanische PRI und schließt sich damit einer wortgleichen Formulierung der FAZ an.

In der Tat: Es ist das Ende einer Ära "illegitimer" staatlicher Gewalt, einer Gewalt, die erkennbar von den Interessen personifizierbarer Machtträger ausging. Es beginnt die Ära des allein legitimierten, weil allgemein akzeptierten "Sachzwanges". Nun darf auf demokratische Weise unter dem ausdrücklichen Beifall der "westlichen Wertegemeinschaft" erschossen und gefoltert werden.