Mittwoch, 16.10.2024 / 09:41 Uhr

Die Geiselfrage zwischen Diplomatie und israelischer Kriegsführung

Bild: Thomas v. der Osten-Sacken

Der israelische Premier Benjamin Netanyahu nutzt die Krisen wie im Libanon und mit dem Iran, um seine Macht zu sichern – auf Kosten des Lebens der Geiseln.

 Es ist immer wieder erstaunlich, wie flexibel sich politische Realitäten formen lassen, wenn es darum geht, die eigene Macht zu sichern. Benjamin Netanyahu hat in der Geiselfrage seit Oktober 2023 genau das bewiesen: Wenn es nützlich ist, wird die Krise verlängert, wenn nicht, verschwindet sie wie von Zauberhand aus dem Rampenlicht. Die Geiseln, die seit dem antisemitischen Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 in Gaza festgehalten werden, sind für Netanyahu längst keine menschlichen Schicksale mehr – sie sind politische Schachfiguren. Was zählt, ist nicht ihr Leben, sondern ihre strategische Funktion in Netanyahus Spiel um Macht und Kontrolle. Und so verschiebt sich der Fokus auf andere Krisenherde, während die israelische Regierung die öffentliche Aufmerksamkeit lenkt, wohin es gerade passt: nach Libanon, Iran, oder wohin auch immer es den politischen Druck von der Geiselfrage wegführt. 

 

Die Verdrängung der Geiselfrage: Libanon, Iran und innenpolitische Manöver

 

Der Libanon ist brisant, der Iran ist gefährlich – und das ist auch gut so. Netanyahu weiß, wie man Krisen künstlich aufbläht, um die eigene politische Agenda voranzutreiben. Mit gezielten militärischen Aktionen im Libanon und einer aufgebauschten Reaktion auf iranische Raketenangriffe gelingt es ihm, die Geiselfrage weitgehend von der politischen Tagesordnung zu verdrängen. Die öffentliche Empörung über das Schicksal der Geiseln wird stillschweigend zugunsten anderer Prioritäten „befriedet“. Die Bodenoffensive im Libanon nimmt Fahrt auf, und Netanyahu verspricht dem Iran Vergeltung für die Angriffe vom 1. Oktober – doch was ist mit den Geiseln? Sie verschwinden aus der politischen Diskussion, ihre Familien verzweifeln, aber die Regierung hat Wichtigeres zu tun.

 

Medienberichte spielen das Spiel mit: Der Fokus verschiebt sich auf den „großen Konflikt“ im Norden. Die Geiseln, deren Schicksal vor wenigen Monaten noch die Titelseiten füllte, sind zur Randnotiz geworden. „Militärischer Druck tötet die Geiseln“, sagen die Familien – doch dieser Druck ist politisch nützlich, also wird er aufrechterhalten. Der Zynismus ist offensichtlich: Netanyahu nutzt das geopolitische Chaos, um unpopuläre Themen einfach zu verschieben. 

 

Militärische Eskalation: Offensive in Gaza und die Preisgabe der Geiseln

 

Während der Libanon die Schlagzeilen dominiert, geht die militärische Offensive im Gazastreifen unaufhaltsam weiter. Doch diese Offensive hat kaum noch etwas mit der Rettung der Geiseln zu tun. Die israelische Armee konzentriert sich auf die Region Jabalya, zerstört palästinensische Infrastruktur und drängt die Zivilbevölkerung in den Süden. Die Geiseln? Sie spielen in diesen militärischen Kalkulationen keine Rolle mehr. Jeder Versuch, sie zu befreien, endet in einem Massaker – zuletzt ermordete die Hamas sechs Geiseln in Rafah, als israelische Truppen sich näherten. Und die Regierung weiß das.

 

Der Einsatz von Bodentruppen im Gazastreifen scheint kaum mehr als ein Vorwand zu sein, um eine langfristige militärische Präsenz zu sichern. Die Hamas hat unmissverständlich klargemacht, dass sie jeden Befreiungsversuch mit der Ermordung von Geiseln beantworten wird. Und doch hält die israelische Regierung an ihrer „Zerstörungskampagne“ fest. Geiselrettung? Das war vielleicht mal das Ziel, jetzt geht es um strategische Landgewinne. Für die israelische Regierung ist klar: Politische Stabilität und militärische Stärke zählen mehr als das Leben einzelner Bürger. 

 

Netanyahu und seine Koalition: Die Geiseln als politische Schachfiguren

 

Die Geiselfrage ist längst zum Mittel der politischen Stabilisierung geworden. Netanyahu, der seine Koalition durch Bündnisse mit rechten Parteien stärkte, nutzt das Leid der Geiseln, um seine Macht zu zementieren. Kritiker werfen ihm vor, mehr daran interessiert zu sein, seine Koalition intakt zu halten, als echte Fortschritte bei den Verhandlungen mit der Hamas zu machen. „Netanjahu lässt uns im Stich“, rufen die Geiselfamilien auf den Straßen, aber der Ministerpräsident bleibt ungerührt. Seine Strategie? Ablenkung und Verzögerung.

 

Die internationale Dimension verschärft das Bild noch: Anstatt internationale Organisationen oder gar die UNO in die humanitäre Hilfe für Gaza einzubeziehen, wird ein amerikanisches Privatunternehmen als Subunternehmer ins Spiel gebracht – ein zynischer Schritt, der die Verantwortung weiter delegiert. Das Geiseldrama ist nicht nur ein innerisraelisches Problem, sondern ein internationales politisches Schachspiel geworden, in dem die Geiseln als Bauern geopfert werden.

 

Netanyahus rechte Koalitionspartner – allen voran die Religiös-Zionistische Partei – unterstützen dieses zynische Spiel. Die Koalition ist stabil, und das ermöglicht es Netanyahu, gefährliche politische Ideen voranzutreiben, die Israels Beteiligung am Krieg vertiefen. Kritik wird abgewiesen, während Netanyahus Machtbasis durch diese gefährlichen Manöver gestärkt wird. Die Geiseln, die nach ihrer Befreiung rufen, sind nur eine Randnotiz in diesem politischen Machtspiel. 

 

Mediale Darstellung und der israelische Protest

 

Während die Regierung ihre Aufmerksamkeit auf die Konflikte im Libanon und im Gazastreifen lenkt, kämpfen die Familien der Geiseln weiter um Gehör. Doch die Protestbewegung in Israel verliert an Dynamik. Was einst Tausende auf die Straßen von Tel Aviv brachte, hat sich mittlerweile auf wenige Hundert reduziert. Der Grund? Die mediale Berichterstattung nimmt ab, die Geiselfrage scheint „durchgespielt“ zu sein.

 

Die Medien, die einst jede Demonstration gegen Netanyahus Krisenmanagement ausführlich dokumentierten, haben nun andere Schlagzeilen zu füllen. Die Geiselfamilien brennen Reifen auf den Straßen und tragen Banner, die Netanyahus „Verbrechen“ anprangern, doch ihre Stimmen verhallen zunehmend ungehört. „Es gibt keine Sühne für ein Jahr der Verlassenheit“, prangt auf Transparenten, doch das scheint niemanden mehr zu interessieren.

 

Die Öffentlichkeit liebt Skandale, aber keine menschlichen Tragödien. Sobald die Geiselfrage ihren politischen Nutzen verloren hat, wird sie in der Berichterstattung marginalisiert. Und so bleibt der mediale Fokus dort, wo es „spannender“ ist: beim Krieg, beim Drama, bei den nächsten politischen Schachzügen.

 

Moralische Verwerfungen und politische Stabilität

 

Netanyahus Israel hat sich entschieden: Die Stabilität seiner Regierung und die militärische Kontrolle über Gaza sind wichtiger als das Leben von 101 Geiseln. Die Geiselfrage wurde zur politischen Schachfigur degradiert, die so lange bewegt wird, wie es der Macht dient – und keine Sekunde länger. Und so bleibt die israelische Gesellschaft mit einem moralischen Dilemma zurück: Wie lange wird man noch bereit sein, diese Realität zu akzeptieren, in der das menschliche Leben nur eine Randbedingung im politischen Kalkül ist?

 

Netanyahus Machtspiel ist klar: Er wird Israel durch diesen Krieg führen, koste es, was es wolle – und wenn es Menschenleben sind, die dafür geopfert werden müssen, dann ist das eben der Preis. Doch wie viel ist dieser Preis wert, wenn die Substanz des Staates dabei auf der Strecke bleibt?