Donnerstag, 18.11.2021 / 09:04 Uhr

Belarus: Humanitäre Hilfe statt ordentliches Asylverfahren?

Von
Arvid Vormann

Bildquelle: Wikimedia Commons

Seit Wochen campieren Tausende bei Minusgraden in Belarus an der polnischen Grenze. Sie kommen aus Syrien, dem Nordirak, Afghanistan. Ihr Ziel: Deutschland. Der belarusische Diktator Lukaschenko, der die Anreise der Flüchtlinge orchestriert, wolle die EU auf diese Weise erpressen, klagen Politiker. Der Flüchtlings-Deal mit dem türkischen Präsidenten Erdogan sei wohl seine Blaupause, meinen manche. Wie und warum die EU aber überhaupt in die Situation geraten konnte, dass sie bereits durch die Ankunft von wenigen Tausend Schutzsuchenden an ihren Grenzen in ihren Grundfesten erschüttert wird, fragt kaum jemand. Wie schwer kann es sein, die Grenzen zu schützen und gleichzeitig Ankömmlingen ihr Recht auf Stellen eines Asylantrags zu gewähren, so wie es nicht nur die Genfer Flüchtlingskonvention, sondern auch EU-Recht vorsieht? Damit liefe Lukaschenkos Aggression weitgehend ins Leere.

Doch in der EU ist man sich längst einig geworden, dass man an geordneten, rechtsstaatlichen Verfahren keinerlei Interesse hat. Der kleinste gemeinsame Nenner europäischer Flüchtlingspolitik ist die Abschottung um jeden Preis; die Menschen sollen gar nicht erst die Gelegenheit erhalten, vorstellig zu werden. Wo das nicht gelingt, werden systematische Pushbacks, also gewaltsame, illegale Rückführungen, von Brüssel augenzwinkernd geduldet.

Kaum noch jemand hinterfragt diese Politik, die ja zugleich den autoritär regierten Anrainerstaaten eine neue Schlüsselrolle als "Hüter der Grenzen" zubilligt und ihnen damit ein entscheidendes Druckmittel in die Hand gibt. Selbst Grüne tun sich schwer mit der Forderung, die Menschen hereinzulassen und anzuhören. Das MdB Julian Pahlke etwa beschreibt die Situation an der Grenze im Deutschlandfunk als "humanitäre Krise" und erwidert auf die Frage, ob die Grenzen geöffnet werden sollten, es müsse jetzt zuerst einmal humanitäre Hilfe zugelassen werden. Decken, Kekse und Lampen als Ersatz für verbriefte Menschenrechte?

Es wiederholt sich, was zeitweilig auch schon im Lager auf Lesbos, wo bis heute verheerende Zustände herrschen, zu beobachten war: Politiker besichtigen den Schauplatz, sind aufrichtig entsetzt vom Gesehenen, schildern das Elend in dramatischen Worten und - fordern humanitäre Hilfe statt ein sofortiges Abstellen des Unrechts, das immerhin im Verantwortungsbereich der EU geschieht. Flüchtlinge werden zu Bittstellern, die allenfalls auf milde Gaben hoffen dürfen - dieser Diskurs der Entrechtung hat sich längst in der öffentlichen Wahrnehmung etabliert und wird praktisch von keiner Seite mehr in Frage gestellt.

Die europäische Abschottungspolitik baut auf allerlei Abkommen und Kooperationen mit mehr oder weniger kriminellen Regimes bis nach Zentralasien und Zentralafrika. Migration soll bereits weit im Vorfeld mit allen Mitteln abgewehrt werden. Diese Auslagerung des Grenzschutzes führt zwar dazu, dass unterdrückerische Regimes stabilisiert und Migrationsrouten immer teurer und tödlicher werden, hält aber angesichts des wachsenden Elends vor Ort viele nicht von der gefährlichen Reise ab. Die EU ihrerseits legt ihr Schicksal immer mehr in die Hände fremder Mächte und verkauft dabei ihre Seele - das Versprechen einer rechtebasierten Weltordnung. Sie unterhöhlt ihre eigenen Werte und ihr selbst gegebenes Recht.

Diese faulen Deals, geboren aus der Furcht vor - angesichts der demografischen Entwicklung eigentlich dringend notwendiger - Zuwanderung, sind auch strategisch unklug und kurzsichtig, zumal man längst weiß, dass der Kreml in der Generierung und Steuerung von Flüchtlingsströmen ein zentrales Instrument zur Destabilisierung der EU, und letztlich zu ihrer Zerschlagung, sieht. Vieles deutet gerade darauf hin, dass diese Rechnung aufgehen könnte.