In Ryūsuke Hamaguchis Spielfilm »Evil Does Not Exist« ist nichts so, wie es scheint

Der Winterhimmel über Mizubiki

Ein geplanter Luxus-Campingplatz, der schwerwiegende Folgen für das ökologische Gleichgewicht der Region und das Leben der Dorfbewohner hätte: Aus dieser Prämisse macht der japanische Regisseur Ryūsuke Hamaguchi in »Evil Does Not Exist« großes Kino.

Ryūsuke Hamaguchis Spielfilm »Evil Does Not Exist« beginnt mit einer langen, ruhigen Kamerafahrt durch einen Wald. Der Blick ist gerade nach oben in den Winterhimmel gerichtet, die kahlen Äste und Baumspitzen der Kiefern und Lärchen scheinen darunter vorbeizuziehen – eine Perspektive, die, wie viele an­dere in diesem Film, nicht der Alltagswahrnehmung entspricht.

Mit der über der Szene liegenden Musik ergibt sich ein soghaftes Szenario, das mit dem Schnitt auf eine blaue Mütze jäh abbricht. Diese sitzt auf dem Kopf von Hana (Ryo Nishikawa), einem Mädchen im Grundschulalter, das den Wald mit staunenden Augen erforscht. Wie so oft hat sie sich nach Schulschluss allein auf den Heimweg gemacht, weil sich ihr Vater Takumi (Hitoshi Omika, der bisher als Regieassistent tätig war und hier in seiner ersten Rolle zu sehen ist) mal wieder verspätet hat.

Die beiden leben nach dem Tod von Hanas Mutter in einer kleinen Dorfgemeinschaft in Mizubiki im ländlichen Japan unweit des Großraums Tokio. Fast dokumentarisch ­beobachtet der Film zunächst ihren Alltag. Mit stoischer Ruhe hackt Takumi Brennholz oder schöpft Quellwasser in Kanister, die er zusammen mit einem anderen Waldarbeiter im Ort verteilt.

Bis auf wenige Höflichkeitsfloskeln wird während dieser Tätigkeiten so gut wie nicht gesprochen. Dennoch freut man sich gemeinsam an der Entdeckung wilden Wasabis, der als Gewürz im örtlichen Nudelrestaurant Verwendung finden soll. In den Pausen wird geraucht und darüber oft die Zeit vergessen.

Was »Evil Does Not Exist« im Vergleich zu früheren Werken eine deutlich gesteigerte Dy­­namik verschafft, ist das konzentrierte Zusammenspiel von kontinuierlich glei­ten­­den Einstellungen und Musik.

Für Hanas Lehrerin ist es längst zur Routine geworden, dem Vater, wenn er mit seinem geländetauglichen Wagen vor der Schule ankommt, mit­zuteilen, seine Tochter sei bereits losgelaufen. Also sucht Takumi sie im Wald. Hat er sie gefunden, erklärt er geduldig die Unterschiede zwischen verschiedenen Baumarten, die Wege von Tieren oder – anhand eines verwesenden Skeletts –, dass sie vor allem Toten keine Angst haben muss.

Das beschauliche Leben der Dorfbevölkerung gerät in Aufruhr, als ein Unternehmen aus Tokio, das eigentlich auf die Vermittlung von Schauspielern spezialisiert ist, in der Gegend eine »Glamping«-Anlage ­eröffnen will. Mit dieser Idee vom »glamourösen Camping« möchte man gestressten Groß­stadt­be­woh­ner:innen die Möglichkeit bieten, vollversorgt in aller Bequemlichkeit erholsame Naturerfahrungen zu machen. Vor allem aber geht es dem Management darum, mit dem Projekt schnell noch die letzten pandemiebedingten Subventionen ab­zugreifen. Deshalb bleibt bei der Planung keine Zeit, Ansprüchen an ­Umwelt- und Sozialverträglichkeit gerecht zu werden.

Die Verschmutzung des Quellwassers, Lebenselixier der Gegend, droht

Als die Projektmanagerin Mayuzumi (Ayaka Shibutani) mit ihrem Kollegen Takahashi (Ryūji Kosaka) in den Ort kommt, um den Anwohnern die Pläne vorzustellen, werden sie zu ihrer Überraschung mit ebenso wütenden wie präzisen Einwänden konfrontiert, denen sie erst mal wenig entgegenzusetzen haben. Vor allem am Fassungsvermögen eines geplanten Abwassertanks entzünden sich Proteste. Bei voller Auslastung des Resorts wäre der Behälter zu klein – die Verschmutzung des Quellwassers, des Lebenselixiers der gesamten Gegend, wäre die Folge.

Stille Wasser. In Mizubiki ist nichts so, wie es scheint

Stille Wasser. In Mizubiki ist nichts so, wie es scheint

Bild:
Pandora Film

Der japanische Regisseur Ryūsuke Hamaguchi hat mit »Evil Does Not Exist« einen Film gedreht, der viel mehr ist als ein didaktisches Plä­doyer für den Umweltschutz, aber die Per­spektive weitet sich erst nach und nach. Der sorgsame Umgang der Dorfbewohner mit den Ressourcen, von denen sie leben, wird ernst genommen. Diesem Verhalten wird ein skrupellos auf Gewinn ausgerichteter Kapitalismus gegenübergestellt, der rücksichtslos gegen Mensch und Natur ist. Dabei wird kein romantisierendes Idealbild einer erhabenen Natur gezeichnet. Vielmehr wirken die Dörfler gerade aufgrund der Rationalität ihres Verhaltens den Unternehmensvertretern überlegen: Sie können die Folgen von Eingriffen ins Ökosystem besser einschätzen und handeln danach.

Als Mayuzumi und Takahashi zurück in Tokio dem Management die Einwände der Dorfbewohner mitteilen, stehen sie innerlich schon fast auf der Seite der Provinzler. Der Aufforderung der Vorgesetzten, sogleich ins Dorf zurückzukehren, um dort Takumi zu umgarnen und ihm einen Arbeitsplatz in der zukünftigen ­Anlage anzubieten, kommen sie gar nicht so ungern nach. Insgeheim überlegen die beiden bereits, ihre Stelle im Büro gegen eine auf dem Waldcampingplatz einzutauschen.

Die Wandlung der Großstädter

Als sie mit Takumi ins wortkarge Gespräch kommen, setzt sich die Wandlung der beiden Großstädter fort. Insbesondere Takahashi versucht, von Takumi zu lernen, und ordnet sich ihm ganz unter. Doch so ruhig bleibt es nicht. Beunruhigende Wahrnehmungen wie Gewehrschüsse unbestimmten Ursprungs, die immer mal wieder aus dem Wald zu hören waren, aber bis dahin nur beiläufig registriert worden sind, summieren sich mit anderen Vorkommnissen zu einem umfassenden Be­drohungsszenario, das auf Eskalation drängt.

Entstanden ist »Evil Does Not Exist« aus einem gemeinsamen Projekt des Regisseurs mit der Komponistin und Multiinstrumentalistin Eiko Ishibashi, mit der er bereits bei seinem Oscar-prämierten Vorgänger »Drive My Car« (2021) zusammengearbeitet hat. Bei der Erarbeitung der Szenen habe die Musik eine zentrale Rolle gespielt, während er frühere Filme viel stärker von den Dialogen der Figuren ausgehend entwickelt habe. Der Fokus auf den Klang habe ihm neue Möglichkeiten bei der – tatsächlich grandios gelungenen – Bildgestaltung eröffnet.

Die gezeigten Menschen sind, selbst wenn sie ganz bei sich und ihrer Tätigkeit sind, beständig in weit größere Bewegungen eingebunden, die der Kamerablick bei aller Betrachtung von Alltäglichem allmählich freilegt.

Selbstverständlich spielen aber auch die Gespräche zwischen den Prot­agonisten eine wichtige Rolle, etwa wenn sich Mayuzumi und Takahashi auf der Fahrt ins Dorf über ihren beruflichen Werdegang, ihre Erfahrungen mit Dating-Apps und die eigenen Lebensziele austauschen. Wie schon in seinem Film »Das Glücksrad« (2021) kommt man den Charakteren nahe, wenn sie sich während des Sprechens über ihre Gefühle klar werden.

Was »Evil Does Not Exist« im Vergleich zu früheren Werken eine deutlich gesteigerte Dynamik verschafft, ist aber das konzentrierte Zusammenspiel von kontinuierlich gleitenden Einstellungen und Musik. Es verwandelt den Film in eine Meditation über Kräfte und Geschwindigkeiten.

Die gezeigten Menschen sind, selbst wenn sie ganz bei sich und ihrer Tätigkeit sind, beständig in weit größere Bewegungen eingebunden, die der Kamerablick bei aller Betrachtung von Alltäglichem allmählich freilegt. Mit ihnen fließt das Dasein inmitten der Landschaft im Großen und Ganzen ruhig dahin, bis es mit einem Mal von einer gewaltigen Tiefenströmung erfasst und wie in einem Tsunami unvermittelt hinweggerissen wird. Aus dem dokumentarischen Modus entfaltet sich so eine symbolisch-existentielle Fabel über das Eingebettetsein des Einzelnen in die Wechselwirkungen des Gesamtzusammenhangs der Welt, in dem Kategorien wie Gut und Böse in der Tat keine Rolle spielen.

Evil Does Not Exist (Japan 2023). Buch und Regie: Ryūsuke Hamaguchi. Musik: Eiko Ishibashi. Darsteller: Hitoshi Omika, Ryo Nishikawa, Ayaka Shibutani, Ryūji Kosaka. Kinostart: 18. April