Land der Arbeit
Die Metzstraße in München liegt im sogenannten »Franzosenviertel« im heutzutage aufgeputzten Stadtteil Haidhausen. An einem Tag im Jahr 1975 stellte der aus Jugoslawien kommende Filmemacher Želimir Žilnik in einem der Mietshäuser seine 16-Millimeter-Kamera im Hausflur auf und ließ die Bewohner:innen nacheinander die Treppe hinuntergehen. Neun Minuten dauert die defileeartige Vorstellungsrunde der multiethnischen Hausgemeinschaft.
Die 30 Männer, Frauen und Kinder der Metzstraße 11 bleiben kurz vor der Kamera stehen, um in einem knappen Satz ihre Lebenssituation zu skizzieren, fast alle kommen aus Ländern, mit denen Deutschland seit 1955 Anwerbeabkommen abgeschlossen hat, also aus Italien, Griechenland und der Türkei. Sie haben Jobs oder sind schon lange Zeit arbeitslos, mit ihrer Lebenssituation halbwegs zufrieden oder von der Realität ernüchtert.
»Inventur – Metzstraße 11« ist ein seltenes Zeitdokument der westdeutschen Einwanderergeschichte der siebziger Jahre und außer einer Bestandsaufnahme von Herkünften, Wohn- und Arbeitsverhältnissen auch eine eindrückliche Porträtstudie. Im Zentrum stehen eben nicht die bürokratischen Akte der Inventur, sondern die Gesichter, Blicke und Gesten der Menschen, ihre Kleidung und Sprechweisen. Ihr Auftritt bildet Ängste und Hoffnungen ab, aber auch das Selbstverständnis in der »Fremde«, gleichzeitig ist viel von der Aufgeregtheit zu spüren, die Žilnik mit seinem kollektiven Filmprojekt im Haus ausgelöst hat.
Unter dem Titel »Die erste Schicht – 60 Jahre Arbeitsmigration aus Sicht der Herkunftsländer« widmet sich das historische Spezialprogramm des österreichischen Filmfestivals Diagonale in diesem Jahr einem Themenfeld, das die Mehrheitsgesellschaft noch bis vor kurzem kaum wahrgenommen hat.
Unter dem Titel »Die erste Schicht – 60 Jahre Arbeitsmigration aus Sicht der Herkunftsländer« widmet sich das historische Spezialprogramm des österreichischen Filmfestivals Diagonale in diesem Jahr einem Themenfeld, das die Mehrheitsgesellschaft noch bis vor kurzem kaum wahrgenommen hat.
Erst in den vergangenen Jahren rückte dieser Teil der Gesellschaft, und damit verbunden der Beitrag migrantischen Filmschaffens, vermehrt in den Blick: etwa durch die kuratorische Arbeit des transnationalen Kinoprojekts »Sinema Transtopia«, das zwischen 2021 und 2023 mit dem Berlinale-Forum das Programm »Fiktionsbescheinigung« ausrichtete. Eine bedeutende Rolle spielte außerdem Cem Kayas Dokumentarfilmessay »Aşk, Mark ve Ölüm – Liebe, D-Mark und Tod« (2022) über die Musikkultur türkischer Einwanderer.
Nationale Film- und Geschichtsschreibung stehen zur Disposition
Die neuen Diagonale-Leiter Dominik Kamalzadeh und Claudia Slanar erweitern in ihrem ersten Festivaljahr auch in anderen Programmen die Perspektive auf das österreichische Kino und stellen damit nicht zuletzt eine nationale Film- und Geschichtsschreibung zur Disposition. Mit »Die erste Schicht« schreiben sie jene filmgeschichtliche (und gegenwartsbezogene) Arbeit weiter – mit einem Schwerpunkt auf Arbeitsmigration.
Dabei nimmt die in Zusammenarbeit mit Petra Popvić kuratierte Schau einen Faden aus dem vorigen Jahr auf; damals widmete das Festival dem im ehemaligen Jugoslawien geborenen österreichischen Filmemacher Goran Rebić eine Werkschau. In seinem auf Super-8 gedrehten Debütfilm »Gekommen bin ich der Arbeit wegen« von 1987 folgt Rebić den mühseligen Wegen seines arbeitsuchenden Vaters von Ebergassing über Trautmannsdorf und Schwadorf bis nach Wien.
Die insgesamt acht Programme versammeln kurze und lange Dokumentar- und Spielfilme, entstanden in Österreich, der BRD, in Jugoslawien und der Türkei. Schauplätze sind vorwiegend die Großstadt – Wien, Berlin, München –, aber auch die Dörfer in den Herkunftsländern, in denen die materiellen Verheißungen der Emigration die Runde machen. Motive wiederholen sich und verknüpfen den einen Film mit dem nächsten: Bahnhöfe, Menschen, die in überfüllten Zügen ihre Heimat verlassen oder dorthin zurückkehren – wenn es gut gelaufen ist, in einem präsentablen Auto –, Fließbandarbeit, heruntergekommene Wohnungen.
Neben »Metzstraße 11« sind von Želimir Žilnik aus dem selben Jahr noch zwei weitere »Inventurarbeiten« zu sehen. »Abschied« begleitet einen jugoslawischen Tischler, der Deutschland den Rücken kehrt, auf einem Bahnsteig des Münchner Hauptbahnhofs. Nach dem System »Ich packe meinen Koffer« stellt er den Inhalt seines Gepäcks vor: neben Geräten wie Radio, Fotoapparat, Stichsäge und Bohrmaschine auch der Reisepass mit diversen Einreisestempeln.
Auch »Unter Denkmalschutz« verbindet den Blick auf gesellschaftspolitische Verhältnisse mit einem Porträt. Ein junger Mann führt atemlos durch seine baufällige Wohnung in einem denkmalgeschützten Haus, die sein Vermieter, ein Landtagsabgeordneter, mit ständig neuen Sabotageakten – Einbruch, Diebstahl, Vandalismus, durchtrennte Stromleitungen, ein erschossener Hund – an den Rand der Unbewohnbarkeit treibt.
Die katastrophale Wohnsituation ist auch Thema in »Gastarbeiter in Österreich« (1971), einer Dokumentation der ORF-Sendereihe »Kontakt«, die die schamlose Ausbeutung der »arbeitenden Gäste« durch Vermieter anprangert. Ein Unternehmer, der sich in seinen aristokratisch eingerichteten Räumen interviewen lässt, sieht seine Arbeiter vor allem als konjunkturabhängige »Importmasse«; mit süffisantem Lächeln erzählt er etwas von »verhältnismäßig schönen Unterkünften«.
Dass die schönen Versprechen über das »Land der Arbeit« sich schnell als Mythen erweisen, zeigen Spielfilme wie »Ne naginji se van /
Nicht hinauslehnen« (1977) von Bogdan Žižić und die surreal-grausame Versuchsanordnung »Otobüs / Der Bus« (1975) von Bay Okan.
Zu dissonanten E-Gitarrenklängen sind mit Stockbetten vollgestellte Wohnungen und Quartiere mit unverputzten Wänden zu sehen, feuchte Kellerräume, ein ehemaliger Schweinestall. Der Film zeigt aber auch Möglichkeiten, sich durch gewerkschaftliche Organisation zur Wehr zu setzen – auch in »Kara Kafa / Schwarzkopf« (1979), dem erschütternden Drama von Korhan Yurtsever, weisen am Ende nur Selbstorganisation und Wissensvermittlung einen Weg aus dem Elend. Der Film wurde nach seiner Fertigstellung vom damaligen türkischen Zensurkomitee verboten, es hieß, er verletze »die Ehre Deutschlands, der befreundeten Nation«.
Kollektive Erzählungen über Einsamkeit und Unbehaustheit
Dass die schönen Versprechen über das »Land der Arbeit« sich schnell als Mythen erweisen, zeigen Spielfilme wie »Ne naginji se van /
Nicht hinauslehnen« (1977) von Bogdan Žižić und die surreal-grausame Versuchsanordnung »Otobüs / Der Bus« (1975) von Bay Okan. Im Mittelpunkt des Letzteren steht ein mit ländlichen Arbeitsmigranten beladener schrottiger Bus, den ein skrupelloser Menschenschmuggler nach dem Einkassieren von Geld und Ausweispapieren auf einem der belebtesten Plätze Stockholms einfach stehenlässt. Die Männer haben panische Angst, das vermeintliche Versteck zu verlassen, nur zu nächtlichen Klogängen und um Essensabfälle zusammenzuklauben wagen sie es, sich aus dem Bus zu schleichen. Draußen werden sie mit den Herausforderungen der kapitalistischen Gesellschaft konfrontiert.
Einen solidarischen Blick auf einen, der auf andere Weise als »Fremder« gilt, wirft der gebürtige Libyer Awad El Kish in der »Der blinde Hirte« (1979), einem am sozialrealistischen Kino geschulten Porträt, das jahrelang vergessen im Archiv lag. Protagonist dieses außergewöhnlichen Films ist Rudolf Schönwälder, ein blinder österreichischer Bauer, der im Weinviertel am Rande der Gesellschaft lebt und unablässig mit behördlichen Drohschreiben drangsaliert wird. Doch Schönwälder hat sich durch jahrelang erlebte Ausgrenzung einen erstaunlichen Widerstandsgeist antrainiert.
In der Zusammenschau verdichten sich Filme wie »Der blinde Hirte«, »Kara Kafa« und »Otobüs« zu kollektiven Erzählungen über Einsamkeit und Unbehaustheit – aber auch Eigensinn und Protest.
Das Festival des österreichischen Films Diagonale findet vom 4. bis 9. April 2024 in Graz statt.