Auswandern aus Deutschland: Früher flohen die Armen, heute gehen die Wohlhabenderen

Nie wieder Deutschland?

Die Einwanderung nach Deutschland befindet sich auf einem Höchststand. Darüber wird oft vergessen, dass auch die Auswanderung aus Deutschland auf einem hohem Niveau liegt. Wer geht und warum? Im Auswanderermuseum Bremerhaven wird die Frage historisch ­eingeordnet.

Die Sehnsucht, ein neues Leben außerhalb Deutschlands zu beginnen, scheint derzeit weitverbreitet zu sein. Bei deutschen Staatsangehörigen ist seit zwei Jahrzehnten eine deutliche Nettoabwanderung festzustellen, im vergangenen Jahr lag sie bei 83.000 Personen. Fernsehserien und Dokumentationen bewirtschaften diese Sehnsucht seit einigen Jahren mit Erfolg. Vor allem der Sender Vox hat hier diverse Formate im Angebot, darunter die Dokusoap »Good­bye Deutschland!«, »Gewinne ein neues Leben – Die Auswanderershow« oder »Auswanderer sucht Frau«.

In Umfragen zeichnet sich eine Tendenz ab, die viele auch in privaten Gesprächen beobachten, nämlich dass überwiegend regierungskritische Menschen, Selbständige, Unternehmer und Rentner bereit sind, Deutschland den Rücken zu kehren. Hohe Steuern, überbordende Bürokratie, vernachlässigte Infrastruktur hierzulande, aber auch neue beruf­liche Chancen, Kitaplätze oder besseres Wetter im Zielland werden als Beweggründe genannt. Viele der Auswanderungswilligen schätzen die persönliche und unternehmerische Freiheit als hohes Gut. Und je un­sicherer die Zukunftsaussichten in Deutschland werden, umso mehr Menschen scheinen sich in Auswanderungsphantasien zu flüchten.

Das Auswandererhaus Bremerhaven als Geschichtsmuseum mit hochaktuellem Thema

Da erscheint das Auswandererhaus Bremerhaven als ein Geschichtsmuseum, dessen Thema hochaktuell ist. Das Gebäude steht an einem historischen Ort, dem Neuen Hafen, von dem zwischen 1830 und 1974 über sieben Millionen Menschen in die Neue Welt aufbrachen. Sie kamen vor allem aus den deutschen Kleinstaaten, später dem Deutschen Reich, aus Österreich-Ungarn, Polen und Russland. Das Museum bemüht sich stark um multisensuale Vermittlung und versucht damit, auch Kinder und Menschen ohne höhere Bildungsgrade anzusprechen. Dazu gehören rekonstruierte Räume und sogenannte Hands-on-Exponate zum buchstäblichen Begreifen.

Mit dem Nachbau eines Dritte-Klasse-Wartesaals beginnt der Ausstellungsrundgang. An den Wänden warnen Aufschriften vor Taschendieben, Bauernfängern und betrügerischen Ticketverkäufern. Zahlreiche Deutsche verdingten sich in den USA als redemptioner. Das bedeutet, dass dortige Unternehmen ihnen die Kosten für Überfahrt und Logis vorstreckten; diese Kosten mussten sie anschließend abarbeiten – Vergleiche mit dem Schleppergeschäft der Gegenwart liegen auf der Hand.

Deutsche Emigrant:innen gehen an Bord eines in die USA fahrenden Dampfers (um 1850)

Deutsche Emigrant:innen gehen an Bord eines in die USA fahrenden Dampfers (um 1850)

Bild:
Wikimedia (gemeinfrei)

Viele allein reisende Frauen schifften sich in Bremerhaven ein. Nach 1900 waren es vor allem Menschen aus Osteuropa, darunter viele Russen, Polen und Juden, die vor erdrückender Armut oder Pogromen flohen. In späteren Jahrzehnten kam es zu weiteren Auswanderungswellen aus Deutschland, beispielsweise im Krisenjahr 1923 und dann wieder 1956, als Deutschen die Einwanderung in die USA wieder gestattet wurde. Damals schifften sich auch zahlreiche Frauen in Bremerhaven ein, die Ehepartnerinnen US-ame­rikanischer Soldaten geworden ­waren.

Wer noch auf einen vergessenen reichen Onkel in Amerika hofft, hat im Auswandererhaus die Möglichkeiten, nach Vorfahren zu suchen, die über Bremerhaven ausgewandert sein könnten.

Ein beklemmender Gegenwartsbezug ergibt sich an der Ausstellungsstation, die die deutsche Auswanderung nach Russland thematisiert. Nachdem Russland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die südliche Ukraine erobert hatte, rief Katharina die Große deutsche Siedler in die entvölkerte vormals osmanische Region, die »Neurussland« genannt wurde. Genau diese Gebiete will Russland nun erneut erobern und plant, loyale Siedler aus verschiedenen russischen Regionen dorthin zu bringen.

Während des Rundgangs durch die stimmungsvollen und bisweilen wie begehbare Theaterkulissen wirkenden Ausstellungsräume lassen sich die einzelnen Stationen einer Auswanderung im 19. oder 20. Jahrhundert nacherleben, etwa durch den Aufenthalt in nachgebauten Schiffskabinen unterschiedlicher Schiffs­typen und Ticketkategorien. Nicht nur die engen, tief im Schiff liegenden Kabinen der dritten Klasse lösen bedrückende Gefühle aus, sondern auch die Schilderungen der harten Arbeitsbedingungen der Besatzung. Vor allem die Heizer, die unaufhörlich Kohlen in die Öfen schaufelten, arbeiteten unter unvorstellbaren Bedingungen. Ihre Selbstmordrate auf bremischen Schiffen lag zwischen 1880 und 1900 zwischen vier und 16 Prozent.

Migrationsbewegungen als »temporäre oder zirkuläre Wanderungen«

Für den Besucher endet die Reise in dem Nachbau einer käfigartigen Wartehalle der Dritte-Klasse-Passagiere auf der New Yorker Quarantäneinsel Ellis Island. Dort wurden sie auf Krankheiten wie Typhus oder Cholera untersucht und gegebenenfalls auch abgewiesen. Der Nachbau der New Yorker Bahnhofshalle Grand Central markiert am Schluss des Museumsrundgangs die Ankunft und das Einleben der Einwanderer in den USA.

Wer noch auf einen vergessenen reichen Onkel in Amerika hofft, hat im Auswandererhaus die Möglichkeiten, nach Vorfahren zu suchen, die über Bremerhaven ausgewandert sein könnten. An Computern kann man die Passagierlisten bremischer Schiffe auch nach bekannten Namen durchforsten.

Der Besuch des Museums zeigt deutlich: Das heutige Wanderungsgeschehen unterscheidet sich grund­legend von dem vor 100 Jahren. Damals haben überwiegend junge, mittellose Menschen ihre Koffer gepackt und fuhren mit einfacher Fahrkarte über den Atlantik. Die Not in der Landwirtschaft oder in den proletarischen Industriestädten war groß und die USA boten vergleichsweise vielfältige Aufstiegsmöglichkeiten und Chancen auf Landerwerb.

Das letzte Auswandererschiff verließ Bremerhaven 1974. Heutzutage fällt es schwer zu begreifen, mit welchen Träumen diese bisweilen etwas trist wirkende und von offensicht­lichen sozialen Problemen geprägte Stadt einmal für Millionen verbunden war.

Zweite und dritte Bauern- und Handwerkersöhne, die nichts erbten, ost­elbische Landarbeiter und Dienstmädchen, die der faktischen Leibeigenschaft entfliehen wollten, aber auch Pleitiers, Betrüger und Heiratsschwindler, die eine neue Identität suchten – sie alle träumten von der Einschiffung in Bremerhaven. Hinzu kamen Abenteuerlust und Fernweh – der damalige Kult um Goldsucher und die grassierende Wildwestro­mantik taten ein Übriges.

Heutzutage wandern Menschen aus Deutschland oft nur vorübergehend aus. Viele jüngere Menschen studieren oder arbeiten zeitweilig im Ausland und kommen dann meist höher qualifiziert wieder zurück. Austauschprogramme für Schüler und Studenten, die auf diese Weise Nordamerika entdecken, finden große Nachfrage. Digitale Nomaden ­arbeiten von angenehmen ausländischen Orten aus. Ältere verbringen ­einen Teil des Lebensabends in milderem Klima oder kehren in die Länder zurück, in denen sie geboren wurden. Der Fachbegriff für diese Migrationsbewegungen lautet »temporäre oder zirkuläre Wanderungen«. So stehen den Weggezogenen eben auch zahlreiche deutsche Rückkehrer gegenüber.

Das letzte Auswandererschiff verließ Bremerhaven 1974. Heutzutage fällt es schwer zu begreifen, mit welchen Träumen diese bisweilen etwas trist wirkende und von offensicht­lichen sozialen Problemen geprägte Stadt einmal für Millionen verbunden war, wenn auch nur als Durchgangsstation. Am Kai, wo damals die Schiffe ablegten, steht nun das Denkmal »The Emigrants«; die Figurengruppe aus Bronze des US-amerikanischen Bildhauers Frank Varga stellt eine vierköpfige Familie dar. Der Vater geht voran und deutet nordwärts auf den Horizont, wo das braune Brackwasser der Weser in die Nordsee fließt. Nordwärts, wo die Schifffahrtsroute ins offene Meer führt – nach Amerika!