Politische Konflikte und Streiks in Bangladesh

Protestwelle in Bangladesh

Die Konfrontation zwischen dem Regierungslager und der oppositionellen religiös-konservativen BNP eskaliert vor der Wahlen. Indessen fordern Beschäftigte der Textilbranche einen deutlich höheren Mindestlohn.

Bangladesh wird derzeit von den größten Protesten seit Jahren erschüttert. Zum einen gibt es seit Ende Oktober einen heftigen Konflikt zwischen der größten Oppositionspartei, der Bangladesh Nationalist Party (BNP), mit der Regierung vor der für Januar geplanten Parlamentswahl. Zum anderen sind Zehntausende Beschäftigte der für das südasiatische Land so wichtigen Textilbranche in den Streik getreten und fordern eine deutliche Anhebung des Mindestlohns auf umgerechnet 195 Euro im Monat, was einer Verdreifachung gleichkäme.

Die Proteste gehen seit dem als unzureichend angesehenen Angebot der Regierung vom Dienstag vergangener Woche, den Mindestlohn auf umgerechnet 106 Euro zu erhöhen, eher noch stärker weiter. Wegen des harten Vorgehens der Polizei, die gegen demonstrierende Arbeiter Schlagstöcke, Gummigeschosse, Tränengas und Lärmgranaten einsetzt, kam es Mitte voriger Woche zu einem weiteren Todesfall; es war der dritte seit Beginn der Arbeiterproteste. Einem Bericht der Zeitung Dhaka Tribune zufolge handelt es sich beim Opfer um eine 22jährige Näherin.

Bis zu 125.000 Menschen sollen nach offiziellen Angaben am 28. Oktober im Zentrum der Hauptstadt Dhaka an einer Oppositionskundgebung teilgenommen haben, bei der der Rücktritt von Premierministerin Sheikh Hasina von der sozialliberalen Awami-Liga (AL) gefordert wurde, um unter einer »neutralen Übergangsregierung« freie und faire Wahlen sicherzustellen. Organisatoren waren die erzkonservativ-religiöse BNP und die mit ihr verbündete islamistische Organisation Jamaat-e-Islami (JI). Polizeisprecher A. K. M. Kamrul Ahsan hatte im Sender Voice of America von einem Beamten gesprochen, der durch eine schwere Kopf­verletzung getötet worden sei, während Dutzende weitere Verletzungen davongetragen hätten. Aber auch unzählige Protestteilnehmer mussten mit Verletzungen in Krankenhäusern behandelt werden.

In den ersten Novembertagen kam es zu einer regelrechten Verhaftungswelle gegen führende Oppositionelle.

In den ersten Novembertagen kam es zudem zu einer regelrechten Verhaftungswelle gegen führende Oppositionelle. Nach unterschiedlichen Angaben sollen 1.200 oder sogar über 2.100 Kader vor allem der BNP festgenommen worden sein, darunter Generalsekretär Mirza Fakhrul Islam Alamgir und der ehemalige Handelsminister Amir Khosru Mahmud Chowdhury. Der 75jährige Alamgir ist faktisch der Kopf der Oppositionspartei, seit die Generalsekretärin und vormalige dreifache Premierministerin, Khaleda Zia, 2020 unter bis heute währenden Hausarrest gestellt wurde; 2018 war sie wegen Korruption zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt worden, wozu in einem anderem Verfahren weitere sieben Jahre hinzukamen. Aus gesundheitlichen Gründen verbüßt sie ihre Strafe seit 2020 in Hausarrest.

Sheikh Hasina und Khaleda Zia sind seit Jahrzehnten Rivalinnen. Erstgenannte ist die Tochter von Mujibur Rahman (1920–1975), der als Initiator der mit indischer Hilfe errungenen endgültigen Unabhängigkeit des vormaligen Ostpakistan 1971 verehrt wird und erster Premierminister von Bangladesh war. Letztere ist die Witwe von General Ziaur Rahman (1936–1981), der ebenfalls eine bedeutende Rolle im Unabhängigkeitskrieg gegen die (west)pakistanische Armee spielte und 1977 nach einem Putsch Präsident wurde. Hasina wirft der Familie Zia vor, an der Ermordung ihres Vaters und weiterer Angehöriger schuld zu sein. Sie selbst überlebte damals, weil sie sich mit ihrer jüngeren Schwester in der Bundesrepublik Deutschland aufhielt.
Abgesehen von einer kurzen Zeitspanne wechseln sich die AL und die BNP seit fünf Jahrzehnten an der Regierung ab und verfolgen jeweils Angehörige der gegnerischen Partei. Gegen Hasina, die seit 2009 Premierministerin ist, gibt es insbesondere seit Jahresbeginn besonders heftige Vorwürfe, dass sie Kritiker verfolgen lasse und die politischen Freiheiten einschränke. Bereits Ende Februar hatte für Aufregung gesorgt, dass die Zeitung Dainik Dinkal ihr Erscheinen einstellen musste – das wichtigste Sprachrohr der BNP.

Amnesty International hat die Regierung in einer Erklärung zur Deeskalation aufgerufen. Todesfälle müssten unparteiisch untersucht, Polizeigewalt gegen Protestierende sowie willkürliche Verhaftungen beendet und freie Wahlen garantiert werden, so die Forderungen. Ebenso hat sich ein Bündnis von sieben anderen Menschenrechtsgruppen in einem Aufruf am 6. November geäußert. Nicht nur auf inzwischen mindestens elf Tote bei den BNP-geführten Protesten wird da verwiesen, sondern auch auf die Opfer des Vorgehens der Polizei gegen die streikenden Beschäftigten der Textilbranche.
Die ist das Rückgrat von Bangladeshs Wirtschaft, stellt 85 Prozent der zuletzt 55 Milliarden US-Dollar jährlich betragenden Exporte des Landes und 16 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Seit der Rana-Plaza-Katastrophe, als beim Einsturz eines achtstöckigen Fa­brikgebäudes am 24. April 2013 am Rande Dhakas 1.135 Menschen starben und 2.500 weitere oft schwer verletzt wurden, hat sich in der Branche beim Brandschutz und Gebäudesicherheit einiges getan – nicht zuletzt wegen des starken Drucks der internationalen Öffentlichkeit.

Kaum Fortschritte gab es aber bei der Entlohnung der überwiegend weiblichen Arbeitskräfte, die in etwa 3.500 Textilfabriken landesweit für Konzerne wie C&A, Zara, Gap, H&M oder die deutsche Billigkleidungskette Kik nähen. Die jüngste Erhöhung des Mindestlohns datiert von 2018. Die damals festgesetzten 8.000 Taka (umgerechnet etwa 67 Euro) reichten schon bei ihrer Einführung kaum zum Überleben. Noch weniger angesichts einer Inflation, die im Oktober auf knapp zehn Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gestiegen ist. Nahrungsmittel haben sich sogar um 12,6 Prozent verteuert, der höchste Wert seit Jahresanfang 2012. Nach den bereits eine Woche laufenden Protesten hatte der Vizearbeitsminister am 7. November eine Lohnanhebung auf 12.500 Taka monatlich (knapp 106 Euro) verkündet. Die Protestierenden fordern unter Führung kampfbereiter Gewerkschaften aber wenigstens 23.000 Taka, also rund 195 Euro.