Ein Versuch die Aggression gegen die ­Letzte Generation zu erklären

Deutscher Straßenkampf

Im Stau stehen nervt, gehört aber für viele Autofahrer zum Alltag. Wenn der Grund dafür jedoch eine Blockade der Letzten Generation ist, werden brave Bürger nicht selten aggressiv oder sogar handgreiflich. Ein Erklärungsversuch.
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Auf den Straßen wiederholen sich derzeit regelmäßig Szenen mit einer ein­gespielten Dramaturgie: Protestierende der Letzten Generation kleben oder setzen sich in Warnwesten auf die Fahrbahn, halten ein Transparent hoch und blockieren die Weiterfahrt der hupenden Autos. Wütende Auto­­fahrer:in­nen steigen aus, schreien auf die Akti­vis­t:in­nen ein und werden schließlich handgreiflich. Protestierende werden über die Fahrbahn geschleift, getreten, geschlagen, mit Pfefferspray malträtiert oder sogar angefahren.

Diese Aggression ist erklärungsbedürftig: Warum halten Leute, die doch vermutlich oft im Stau stehen, es nicht aus, auf eine Räumung durch die Polizei zu warten? Warum werden sie gewalttätig, woher kommt diese Enthemmung?

Eine Antwort könnte im Grund des Protests liegen. Stephan Lessenich, heute Leiter des Instituts für Sozialforschung, hat 2016 in »Neben uns die Sintflut« die Psychodynamik diskutiert, die zur Verdrängung der ökologischen und sozialen Folgen des Kapitalismus beiträgt. Lessenich zufolge werden diese nicht nur in der realen Welt in andere Weltregionen »externalisiert« – es gibt auch eine innere Abwehr dagegen, sich bewusst zu machen, was für ein Elend und welche Katastrophen die kapitalistische Wirtschaftsordnung andernorts hervorbringt. Die »psychische Belastung eines allgemeinen Wissens um die – oder zumindest einer Ahnung von den – Bürden, die anderen Menschen und Welt­regionen auferlegt werden«, werde vom »kollektiven Gefühlsleben abgetrennt«, so Lessenich.

Offenbar ist die Irritation des Selbstbilds, moralisch zu handeln und unersetzlich zu sein, derart unaushaltbar, dass sie als Angriff erlebt wird.

Die Letzte Generation sitzt nun wie ein lebender Vorwurf, sich der eigenen Verantwortung nicht bewusst genug zu sein, vor einem auf der Straße. Selbst wenn die Auto­fahre­r:in­nen gar nicht adressiert werden, sondern brav die Bundespolitik, bricht an der Stelle doch womöglich das bequeme Selbstbild zusammen, mit allem nichts zu tun haben. Zumal die Folgen Klimawandels nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich externalisiert werden: Sie sind in die Zukunft verschoben. Die Letzte Generation trägt ungeachtet der tatsächlichen Altersstruktur ihrer Mitglieder diese Kritik im Namen.

Das ist nicht die einzige Verdrängung, die gestört wird. Der Protest spricht eine weitere unangenehme Wahrheit aus: Es ist nicht wichtig, dass ihr ankommt. Der alltägliche Stress im Berufsleben kann Menschen zermürben und sie gereizt und aggressiv machen. Auf jedes Hindernis in ihrem ständigen Kampf gegen die Uhr und die Konkurrenz reagieren sie dann mit Wut. Andererseits dürfte – entgegen der gebrüllten Legitimation nachfolgender Gewalt, man müsse dringend zur Arbeit – die Verspätung meistens kaum tatsächliche Probleme bereiten. Wer nicht ganz unten in der Hackordnung steht, kann in der Regel Kunden oder Chefs einfach anrufen und die Verspätung erklären. Die Letzte Generation liefert eine wasserdichte Begründung und man hat sogar noch eine interessante Geschichte zu erzählen. Zum Arbeitsfetischismus gehört aber die Illusion der eigenen Unabdingbarkeit, die Phantasie, man werde irgendwo dringend gebraucht. Für viele ist es schwer zu ertragen, die eigene Austauschbarkeit und Überflüssigkeit im Produktionsprozess vor Augen geführt zu bekommen.

Offenbar ist die Irritation des Selbstbilds, moralisch zu handeln und unersetzlich zu sein, derart unaushaltbar, dass sie als Angriff erlebt wird. Die ei­gene Aggression wird zur Gegenwehr umgedeutet. Angestachelt wird die Triebenthemmung durch Legitimationserzählungen der rechtskonserva­tiven bis -extremen Öffentlichkeit. Die Bielefelder »Mitte-Studie« 2023 hat einen direkten Zusammenhang zwischen der Haltung zum Klimaschutz und demokratiefeindlichen Einstellungen festgestellt. Wer klimapolitisch regressive Positionen teile, neige eher ­zu »demokratiegefährdenden Einstellungen« und der Billigung politischer Gewalt.

Die Rechte weiß sich dieses Poten­tial zunutze zu machen, indem sie die »Klima-Kleber« zum Feindbild der werktätigen Bevölkerung erhebt. Oft ist das mit dem Ressentiment verbunden, die Aktivisten seien privilegiert und könnten sich nur deshalb ihre moralische Haltung leisten – sie müssen ja offenbar nicht arbeiten, ja, wollen sogar »Jobs kaputtmachen«. Das kann aggressiv machen, wenn man selbst unter dem »Ernst des Lebens« leidet, daraus aber keinen Ausweg sieht oder sich dieses Leidens nicht mal bewusst ist.

Oft zeigen sich die Angreifer sogar verwundert über das Einschreiten der Polizei. Es scheint, als hätten sie vermutet, das Gewaltmonopol der Exekutive erstrecke sich auch auf sie, als seien sie identisch mit der Autorität. Diese Verwechslung kommt nicht von ungefähr, sondern ist Merkmal rechter Propaganda. Sie lädt ein, Teil der Gemeinschaft der Deutschen, Normalen und Wichtigen zu werden.

Im Interesse dieser Gemeinschaft erlaubt sie die Enthemmung. Die einzelnen sehen sich als Exekutor:innen des geteilten Willens, als Ver­tei­diger:in­nen der Normalität. Das schafft Erleichterung: Die Bedrohlichkeit des Klimawandels muss nicht intellektuell erfasst oder sublimiert werden, es genügt seine Verdrängung. Die Menschen, die da vor einem auf der Straße sitzen, sind dann nur noch ein Hindernis, das es zu überwinden gilt. In den sozialen Medien kursieren Kommentare, man müsse sie einfach überfahren.

Begünstigt wird die Enthemmung durch die Gewaltfreiheit des Protests. Die Blockierer, die da vor den Autos sitzen, wehren sich nicht. Sie lassen es mit sich machen, sie sind die duldsamen Opfer. Indes springen die Täter:in­nen manchmal so bereitwillig aus ihren Autos und stürmen auf den Protest zu, dass es den Anschein hat, als hätten sie diesen Moment sehnlichst erwartet.