Frauen haben im Alpinsport mit vielen Hindernissen zu kämpfen

Der Streit um die Gipfelrekorde

Bergsteigerinnen erfuhren und erfahren immer wieder Missachtung – schon gar, wenn sie nicht zur gehobenen Gesellschaft gehörten. Das zeigt auch der aktuelle Streit um Bergsteigerrekorde, der vom Guiness-Buch der Rekorde ausgelöst wurde.

Es herrscht Aufregung in der Bergsteigerszene. Doch diese dreht sich erstaunlicherweise nicht um Gerlinde Kaltenbrunner, sondern um Reinhold Messner. Und um seine Pioniertat, als erster Mensch auf allen 14 Achttausendern dieser Erde gewesen zu sein. Der Südtiroler Messner war der erste Mann, der dies schaffte, die Österreicherin Kaltenbrunner die erste Frau; beide waren jeweils ohne Sauerstoffflaschen und ohne Träger unterwegs gewesen.

Doch nun wird genau das bestritten. Der Mann, der das Guinness-Buch der Rekorde in alpinistischen Dingen berät, Eberhard Jurgalski aus dem badischen Lörrach, kam jüngst zu dem Schluss, »dass bei einer Reihe von Gipfeln (insbesondere Annapurna 1, Dhaulagiri 1 und Manaslu) die ›wahren Gipfel‹ über viele Jahre hinweg nicht korrekt identifiziert worden waren«. Soll heißen: Messner, Kaltenbrunner und etliche andere waren jeweils nur beinahe ganz oben, denn auf ihren Karten waren die fraglichen Gipfel falsch einge­tragen.

Das fragwürdige Alpinismusverständnis, das sich auf Rekordtabellen und GPU-Daten kapriziert, benachteiligt das Frauenbergsteigen.

Über Messner ist nun eine große Debatte entbrannt, über Kaltenbrunner weniger, obwohl der Sachverhalt in ihrem Fall noch viel komplizierter ist. Kaltenbrunner gilt seit 2011, je nach Zählweise, als die zweite oder dritte Frau, die alle Achttausender bestiegen hat, und als die erste, der dies ohne Flaschensauerstoff gelang. Als größte Konkurrentin galt damals Edurne Pasaban. Doch vor diesen beiden Bergsteigerinnen war im Jahr 2010 die Südkoreanerin Oh Eun-sun auf den 14 höchsten Gipfeln der Welt – mit Sauerstoff, was unter Alpinismuspuristen als Leistung minderer Güte bekrittelt wird. Zudem wurde Ohs Besteigung des Kang­chend­zönga in Frage gestellt, und dass sie sich mit Hubschraubern in die jeweiligen Basiscamps fliegen ließ, trug man ihr auch nach. Nach der jüngsten Statistik werden zwölf von Pasabans und nur elf von Eun-suns Gipfelbesteigungen anerkannt.

Dieses von der Konkurrenz dreier sehr unterschiedlicher Bergstei­gerinnen geprägte Stück Alpingeschichte versuchen nun die Guinness-Statistiker über den Haufen zu werfen. »Die erste echte Gipfelbesteigung aller Achttausender durch eine Frau (mit Flaschensauerstoff) gelang der chinesischen Bergsteigerin Dong Hong-Juan mit ihrer erfolgreichen Besteigung des Shishapangma am 26. April 2023«, heißt es nun.

Wenn Bergsteiger einen schwierigen Gipfel besteigen, geben sie anschließend einen möglichst genauen Bericht ab, der dann von der Fach­öffentlichkeit überprüft wird. Für die Besteigungen der Achttausender war bislang »The Himalayan Data­base« maßgeblich. Seit Beginn der sechziger-Jahre bis zu ihrem Tod 2018 war die in Nepal lebende US-ame­rikanische Journalistin Elizabeth Hawley für die Pflege dieser Chronik zuständig. Sie beurteilte, ob eine Leistung als erbracht gelten konnte. Die Zweifel etwa an den Angaben von Oh Eun-sun stammten von Hawley. Dass nun das Guiness-Buch der Rekorde versucht, die Hoheit über die Himalaya-Statistik zu erlangen, ist ein Aspekt des derzeitigen Streits. Mit ihm einher geht die Frage, ob man das Bergsteigen, und gerade den im Himalaya betriebenen Extremalpinismus, wirklich als Rekordsport betreiben sollte.

Dieses fragwürdige Alpinismusverständnis, das sich auf Rekord­tabellen und GPU-Daten kapriziert, benachteiligt zudem das Frauenbergsteigen. Gerade eine Extrembergsteigerin wie Gerlinde Kalten­brunner hat in den vergangenen Jahrzehnten bewiesen, dass Leistungsfähigkeit am Berg nichts mit dem Geschlecht zu tun hat. Über 30 Expeditionen hat sie bewältigt, und die größten Hindernisse, auf die sie dabei stieß, waren meist männergemacht.

Das betrifft nicht nur mit falscher Fürsorglichkeit vorgetragene Vor­urteile, sondern auch dies: Anders als die ersten Männer, die sich den noch überhaupt nicht erschlossenen Achttausendern näherten, fanden sich Frauen wie Kaltenbrunner oder Pasaban vor Bergen wieder, an ­denen alpintouristische Agenturen schon alles vorbereitet hatten – Fixseile, Camps mit Sauerstoffreserven und vieles mehr. Reinhold Messner merkte mehrfach kritisch an, dass Bergsteigerinnen wie Kaltenbrunner an den Achttausendern auf ausgebaute Pisten getroffen seien.

Für Profialpinistinnen ist das ein Dilemma. Als Kaltenbrunner die Südwand des zu China gehörenden Shishapangma (8 027 Meter) besteigen wollte, stieß sie in der Höhe von etwa 7 000 Metern auf Fixseile. ­Diese nicht zu benutzen und sich eine andere, vielleicht gefährlichere Spur zu suchen, war nicht möglich. Auf die Rekorddebatte bezogen: Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich auf eine Weise zu bewegen, die Rekordpu­risten als fragwürdig ansehen. Die gleichwertige Leistung von Frauen wird schlechter beurteilt, weil sie das vorfinden, was Männer dort oben schon angerichtet haben.

Schaut man sich die Alpingeschichte an, waren Leistungsunterschiede am Berg gering bis gar nicht existent; diese Differenzen wurden immer schon gesellschaftlich hergestellt. Als Beginn des Alpinismus gilt die Erstbesteigung des Montblanc 1786 – nicht von ungefähr im historischen Umfeld der Aufklärung und der Französischen Revolution. Sie gelang einem Arzt, Michel-Gabriel Paccard, und einem Kristallsucher, Jacques Balmat. In späteren Alpingeschichten wird gerne so getan, als sei P­accard der eigentliche Erstbesteiger und Balmat so eine Art Träger gewesen.

Ähnliches wiederholte sich, als 1808 mit der Magd Marie Paradis die erste Frau den Montblanc bestieg, unter anderem begleitet von Balmat. Dass 30 Jahre später die Adlige Hen­riette d’Angeville auch oben war, gilt vielen Alpinhistorikern als die eigentliche Pionierinnentat. Paradis habe ja den Gipfel »nicht ganz aus ­eigenem Willen und eigener Kraft« erreicht, schreiben zum Beispiel die Journalistinnen Caroline Fink und Karin Steinbach in ihrem Buch »Erste am Seil. Pionierinnen in Fels und Eis« (2013).

Marie Paradis war in der Tat überredet worden, mitzukommen; sie selbst berichtete später, sie sei dort oben krank geworden. »Ich konnte nicht sehen, nicht atmen, nicht sprechen, sie sagten, dass es ein Jammer war, mich anzusehen.« Nach ihrem Aufstieg machte Marie Paradis sich mit einer Teestube im Dorf Les Pèlerins selbständig. Aus Sicht der Al­pinpuristen verfolgte sie damit kommerzielle Interessen. Ihnen gilt vielmehr d’Angeville als Pionierin, da sie das Bergsteigen nur als Selbstzweck betrieben habe. Das tat sie freilich, weil sie sich das aufgrund ihres Vermögens leisten konnte – außerdem war sie mit sechs Bergführern und zehn Kofferträgern unterwegs.

Wenn schon Frauen in die Berge gehen, dann müssen es wenigstens Damen von hohem Stande sein – so lässt sich der Beginn der Geschichte des Frauenbergsteigens zusammenfassen. Als sich aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die ersten Alpenvereine gründeten – der erste war der Alpine Club 1857 in London –, war nicht einmal hochgestellten ­Damen der Beitritt erlaubt. Statistiken zeigen, dass das Frauenbergsteigen dennoch außerhalb der Vereine stattfand. Auf dem Montblanc waren ­zwischen 1854 und 1888 insgesamt 69 Frauen, davon 33 Englände­rinnen.

Im Jahr 1859 veröffentlichte Eliza Cole das Buch »A Lady’s Tour Round Monte Rosa«, das vom Bergsteigen in den Walliser Alpen handelt. Sie schrieb: »Ich kann mit Sicherheit sagen, dass jede Dame, mit passabler Gesundheit und Lust am Steigen ausgestattet, Touren in den Alpen unternehmen kann. Mit großer Freude und nur wenigen Unannehmlich­keiten.«

Die erste Matterhorn-Besteigung durch eine Frau erfolgte 1871 durch die Engländerin Lucy Walker. Nur sechs Jahre zuvor war der markante Berg in einem dramatischen Aufstieg, bei dem vier der sieben Erstbesteiger ums Leben kamen, erstmals bezwungen worden. Walker zog zu Beginn des Aufstiegs, als die Kletterpartien begannen, ihr Kleid aus und bestieg – gegen alle damaligen ­Kleiderordnungen – den Berg nur im Flanellunterrock.

Auch Walker hatte eine Konkurrentin, der sie zuvorkommen wollte: die US-Amerikanerin Margaret »Meta« Brevoort. Die war zwar nicht die Erste auf dem Matterhorn, fiel aber mit anderen erstklassigen Besteigungen auf. Der Londoner Alpine Club wollte sich dem nicht verweigern und nahm zwar nicht Brevoort auf, sie war ja schließlich eine Frau, aber ihre Sennenhündin Tschingel.

Bis heute müssen Frauen im ­Gebirge Zurückweisungen und Ignoranz erleben. Mitunter tun sie sich zu Frauenexpeditionen zusammen. Im Himalaya führte 1978 ein solches Unternehmen zur Annapurna 1. Die Initiatorin Arlene Blum vermarktete sie unter dem Motto »A woman’s place is on top«, zwei Frauen und zwei männliche Sherpas erreichten den Gipfel. 1994 gab es eine erste österreichische Frauenexpedition auf den Shishapangma. Die Schweizer Gemeinde Zermatt, am Matterhorn gelegen, ist in den vergangenen Jahren dazu übergegangen, auch die historische Tat der Lucy Walker zu würdigen: im örtlichen Alpinmuseum und auch auf touristischen Sou­venirs, auf denen die kämpferische Engländerin abgebildet ist. Die ­vielen anderen Bergsteigerinnen kommen bestimmt noch nach.