Das lange Ende des Kolonialismus
Die äthiopisch-US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Adom Getachew erschließt in ihrer Studie »Die Welt nach den Imperien. Aufstieg und Niedergang der postkolonialen Selbstbestimmung« eine bislang wenig beachtete Debatte, die den Unabhängigkeitsprozess von Ländern wie Ghana, Nigeria, Jamaika oder Trinidad und Tobago begleitet hat.
Sie widerspricht der verbreiteten Annahme, dass mit der Übernahme westlich-liberaler Politikstrukturen ein ideologischer Sieg der untergehenden Imperien die Unabhängigkeit eingeleitet habe. Vielmehr sei ein autonomer Diskurs des postkolonialen Nationalismus entstanden, der sich an (letztlich gescheiterten) Föderations- und Konföderationsprojekten ebenso versuchte wie an einer »Neuen Weltwirtschaftsordnung«, die die ungleichen Handelsbeziehungen zwischen Entwicklungs- und Industrieländern angehen sollte.
Der sowjetische Imperialismus erscheint als eine Fußnote der Geschichte.
Staatsmänner wie Eric Williams (Trinidad und Tobago), Kwame Nkrumah (Ghana) und Michael Manley (Jamaika) argumentierten schon früh, dass das Erbe der transatlantischen Sklaverei und die prekäre Lage ihrer Länder als Rohstofflieferanten ohne wettbewerbsfähige Industrien eine spezielle Form des Nationalismus erfordern würden, um schwarzen Menschen im internationalen Staatengefüge eine Stimme zu verschaffen. Diese Debatten kann Getachew in ihrem Buch begreifbar machen.
Anderes bleibt verborgen: die autoritäre Politik Nkrumahs gegenüber der ghanaischen Opposition zum Beispiel oder die moskaufreundliche Haltung Michael Manleys, der Jamaika nach dem Vorbild Kubas in einen sowjetischen Satellitenstaat verwandeln wollte. Durch die Fokussierung auf die Nachwehen des westeuropäischen Kolonialismus erscheinen der sowjetische Imperialismus und dessen ambitionierte Außenpolitik in Afrika und Mittelamerika als eine Fußnote der Geschichte.
Adom Getachew: Die Welt nach den Imperien. Aufstieg und Niedergang der postkolonialen Selbstbestimmung. Aus dem Englischen von Frank Lachmann. Suhrkamp, Berlin 2022, 448 Seiten, 34 Euro