Fast 200 Staaten haben sich das Ziel gesetzt, gegen das Artensterben vorzugehen

Den Weg der Dinosaurier

Auf der 15. UN-Biodiversitätskonferenz in Montreal setzten sich Vertreter von fast 200 Staaten ambitionierte Ziele, um den rasanten Artenschwund zu bremsen. Doch Umweltschutzorganisationen kritisieren den Mangel an konkreten Verpflichtungen. Auch vorherige Artenschutzabkommen seien aus diesem Grund gescheitert.

Viel länger hätte man sich mit der 15. UN-Biodiversitätskonferenz nicht Zeit lassen dürfen: Sie legte vom 7. bis zum 19. Dezember in Montreal die globalen Naturschutzziele für dieses Jahrzehnt fest. Der jüngste, alarmierende Bericht des sogenannten Weltbiodiversitätsrats der Vereinten Nationen (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services, IPBES) über das dramatische Ausmaß der menschengemachten Zerstörung der biologischen Artenvielfalt stammt bereits aus dem Jahr 2019. Eine Million von acht Millionen Tier- und Pflanzenarten seien den auf wissenschaftlichen Modellen beruhenden Schätzungen der internationalen Forscher zufolge unmittelbar vom Aussterben bedroht, viele davon bereits in den kommenden Jahrzehnten. Viele Forscher und Umwelt­schützer sprechen vom sechsten großen Massenaussterben der Erdgeschichte. Die Umwandlung von Ökosystemen in industrielle Agrarflächen und urbane Landschaften führt dazu, dass weltweit in rasanter Geschwindigkeit die Biodiversität zurückgeht, Landschaften monotoner werden und ganze Arten aussterben. Pünktlich zum 15. sogenannten Weltnaturgipfel hat die Umweltstiftung WWF ihren jüngsten, mittlerweile 14. »Living Planet Report« vorgelegt. Dazu wurden im Zeitraum zwischen 1970 und 2018 insgesamt 32 000 Populationen von 5 320 unterschiedlichen Tierarten untersucht. Das Ergebnis: Durchschnittlich gingen die Bestände der beobachteten Populationen in diesem Zeitraum um 69 Prozent zurück. Gleichzeitig wird sich »laut dem Weltklimarat (IPCC) die Wirkung der Klimakrise auf die Artenvielfalt bis 2100 dramatisch erhöhen«, warnt der Bericht. »Umgekehrt heizt der fortschreitende Verlust an biologischer Vielfalt die Klimakrise weiter an. Brennende Regenwälder und immer größere Monokulturen verringern die Kohlenstoffspeicherung – ein fataler Ping-Pong-Effekt.«

Verschiedene Forscher und Umweltschützer sprechen vom sechsten großen Massen­aussterben der Erdgeschichte.

Da Tier- und Pflanzenarten, Pilze und Mikroorganismen überall auf der Welt und aus vielen unterschiedlichen Gründen verschwinden, sind Naturschutzgebiete und ökologische Korridore notwendig, um den Artenschwund zumindest zu verlangsamen – denn nicht nur Lebensräume gehen verloren, es gelangen auch zu viele schädliche Chemikalien in die Umwelt und einige Tier- und Pflanzenarten sind von Rodungen, Überjagung und –fischung direkt betroffen. Einen früheren idealen Naturzustand, der wieder erreichbar wäre, gibt es zwar nicht, aber überall bestehen die Reste von Kulturlandschaften aus früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten mit ihrer Artenvielfalt. Sie sollten geschützt und künstlich weiterentwickelt werden.

Die meisten Teilnehmer des diesjährigen Weltnaturgipfels stießen deshalb Jubelrufe nach der Verkündung der Abschlusserklärung aus, in der sie ein historisch neues Abkommen zum Sch­utz der biologischen Vielfalt sehen. Die deutsche Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) sprach von einem »mutigen Schritt«, ein »letztlich überraschend gutes Rahmenwerk« nannte Florian Titze vom WWF Deutschland das Abkommen in der »Tagesschau« vom 19.12.2022. In der Montrealer Erklärung setzen sich die Vertreter von fast 200 Staaten das Ziel, mindestens 30 Prozent der Land- und Meeresflächen des Planeten bis 2030 unter Naturschutz zu stellen. Die reichen Länder sollen den ärmeren Ländern bis 2025 rund 20 Milliarden und bis 2030 rund 30 Milliarden US-Dollar jährlich für den Schutz der Artenvielfalt zukommen lassen. Zudem soll der Pestizid-Eintrag in die Umwelt bis 2030 um die Hälfte reduziert und Subventionen, die sich schädlich auf die Umwelt auswirken, sollen abgebaut werden.

Bei den nichtstaatlichen Umwelt- und Naturschutzorganisationen von Greenpeace über Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) bis Pro Wildlife und Robin Wood überwiegt jedoch die Enttäuschung. Es fehlen die konkreten Vereinbarungen und messbaren Ziele, so der Tenor. Das Abschlussabkommen werde nicht ausreichen, um den Verlust der Artenvielfalt und Ökosysteme aufzuhalten oder gar umzukehren. »Die Welt rast in der Natur- und Klimakrise auf einen Abgrund zu«, resümierte Jörg-Andreas Krüger, Präsident des Naturschutzbunds (Nabu). »Doch statt entschieden zu bremsen, geht sie lediglich etwas vom Gas.«

Kritiker argumentieren, es würden bei solchen Konferenzen immer wieder die gleichen Fehler gemacht. Die Staaten gehen mit den Naturschutzzielen zwar eine Selbstverpflichtung ein, doch wie das Erreichen der Ziele kontrolliert und – vor allem – wie deren Verfehlen sanktioniert werden soll, ist völlig offen. In den vergangenen Jahren wurden die vereinbarten Ziele nie eingehalten.

Die Biodiversitätskonvention der Vereinten Nationen wurde 1992 unterzeichnet. Seitdem finden fast jährlich weltweite Biodiversitätskonferenzen statt, doch hat sich die Geschwindigkeit des Artensterbens seither nicht verlangsamt. Diese Biodiversitätskonvention ging zwar damals über die Inhalte früherer Umwelt- und Artenschutzabkommen weit hinaus, indem sie den Begriff der zu schützenden Biodiversität klar definierte. Biodiversität bezeichnet die gesamte biologische und genetische Vielfalt aller Lebewesen und Ökosysteme, die so unterschiedlich sind wie die Antarktis, der tropische Regenwald, die Sahara, Mangrovenwälder, der Rotbuchen-Urwald Mitteleuropas oder die verschiedenen Meeres- und Küstenregionen weltweit. Die 196 Unterzeichnerstaaten der Konvention können aber nicht zu konkreten Schutzmaßnahmen gezwungen werden. Nach einem UN-Bericht von 2020 wurde kein einziges der auf der Artenschutzkonferenz 2010 in Japan festgelegten 20 Biodiversitätsziele für das Jahrzehnt bis 2020 erreicht: Es gab keine deutliche Ausdehnung der Schutzgebiete, kein Absenken der Verlustrate naturbelassener Lebensräume, kein Ende der Überfischung und Korallenvernichtung. In Deutschland, wo es erst seit 2007 eine nationale Biodiversitätsstrategie gibt, existieren zwar viele Naturschutzgebiete und weitere sind in Planung, aber am Ende überwiegen dann oft doch wirtschaftliche Interessen oder der Ausbau der Infrastruktur die Gebote des Naturschutzes. Der geplante Fehmarnbelt-Tunnel, der durch die Ostsee Deutschland und Dänemark miteinander verbinden soll, führt beispielsweise durch ein Meeresschutzgebiet, und ein Großteil der 16 Nationalparks in Deutschland ist von Straßen durchzogen. Selbst in den Kernzonen der Parks gibt es breite, LKW-fähige Forststraßen.

Dabei schaffen Renaturierung und Schutzgebiete die Möglichkeit, Artenvielfalt zu erhalten. Gebiete, die heute Ackerland, Forste und Siedlungen beheimaten, ebenso wie Weiden, Savannen und Meeresökosysteme werden in einen von Menschen möglichst unbeeinflussten Zustand versetzt. Petra Ahne, Feuilleton-Redakteurin der FAZ, gibt zu bedenken: »Der Plan, weltweit 30 Prozent der Fläche an Land und im Meer bis 2030 zu Naturschutzgebieten zu erklären, klingt konkret und tatkräftig. Wenn er zum Synonym für das Weltnaturschutzabkommen wird, besteht allerdings die Gefahr, dass sich genau jene Vorstellung fortschreibt, die überwunden werden muss: dort unberührte Natur, hier der Mensch. Biologische Vielfalt kann nicht nur in der Distanz gerettet werden, sie muss überall zurückkehren.« Damit ist die Rückkehr von Ruhezonen und Gebieten mit hoher Artenvielfalt in die Zentren der industrialisierten Gesellschaften angesprochen wie auch der Übergang zu anderen Formen des Wirtschaftens und des Verbrauchs, der in Montreal so gut wie keine Rolle spielte. António Guterres, der UN-Generalsekretär, sagte in Montreal den Satz: »Ohne Natur haben wir nichts, ohne Natur sind wir nichts«. Wenn das ernst gemeint sein sollte, müsste es nicht nur um Naturschutzgebiete gehen, sondern um den ökologischen Wandel in Konsum, Produktion und Handel. In Deutschland zum Beispiel ist »bislang nicht sichergestellt, dass Neubaugebiete, Infrastruktur- oder Energievorhaben zusammen biodiversitätskonform gestaltet werden«, kritisiert Yves Zinngrebe vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in der FAZ.

Das wird sich voraussichtlich erst dann ändern, wenn das Artensterben tagespolitisches Thema wird, so wie es sich mit der Klimakrise ereignete. António Guterres verwendete, ähnlich wie beim Weltklimagipfel in Ägypten Mitte 2022, zur Eröffnung der Weltnatur­schutzkonferenz alarmierende Worte. »Unser endloser Appetit auf ungehindertes und ungleiches ökonomisches Wachstum hat die Menschheit zu einer Waffe der Zerstörung gemacht«, sagte er bei seiner Eröffnungsrede. Nun gebe es die Chance, die »Orgie der Zerstörung« zu beenden. Während Guterres bei den UN-Klimagipfeln vor den versammelten Staats- und Regierungschefs nahezu aller Länder spricht, waren es in Montreal nur die Abgesandten der 196 Vertragsstaaten der UN-Biodiversitätskonvention. Die drastischen Worte vieler Rednerinnen und Redner über die Bedeutung der Artenkrise stehen in krassem Kontrast zur kompletten Abwesenheit von Staats- und Regierungschefs; nur Fachminister nahmen teil. Die politischen Machthabenden nehmen die Biodiversitätskrise noch immer nicht ernst genug.