Ohne Biene keine Blüte
Die Insekten verschwinden. Als die Krefelder Langzeitstudie engagierter Laienforscher 2017 die erste öffentliche Diskussion über das rätselhafte Insektensterben auslöste, griff die politische und mediale Aufmerksamkeit eine alltäglichen Erfahrung vieler auf: keine mit Insekten bedeckte Windschutzscheiben mehr nach langen Autofahrten, kaum noch Schmetterlinge beim Spaziergang, nur noch wenige Mückenstiche, selbst wenn man das Fenster auf- und das Licht anlässt. Doch beschränkten sich viele Berichte auf das Bienensterben, der größere Zusammenhang wurde kaum thematisiert. Tanja Busse hingegen schrieb Ende des vergangenen Jahres in den Blättern für deutsche und internationale Politik, das Insektensterben sei »Teil des großen Massenaussterbens. Man muss es als Indikator für einen drohenden ökologischen Zusammenbruch sehen.«
Das Verschwinden der Insekten ist kein isoliertes Einzelproblem, das unabhängig von den dicht verwobenen Nahrungsnetzen der Ökosysteme betrachtet werden kann.
Die Bundesregierung agiert derweil widersprüchlich, da sie nahezu zur gleichen Zeit, als sie ein »Aktionsprogramm Insektenschutz« beschloß, neue Insektizide zuließ, die außerordentlich bedrohlich für den Insektenbestand sind. Trotz diesbezüglich erdrückender Faktenlage hatte man die EU-weite Wiederzulassung des Totalherbizids Glyphosat nicht verhindert.
Anfang August legte Umweltministerin Svenja Schulze (SPD) dem Bundeskabinett den Entwurf für ein Insektenschutzgesetz vor. Es enthält Regelungen gegen Lichtverschmutzung in den Städten, zur Ausweitung des Biotopschutzes auf artenreichem Grünland und Streuobstbeständen, für Abstände zu Gewässsern bei der Anwendung von Pflanzenschutzmitteln sowie zur Stärkung ökologischer Landschaftsplanung. Wenn es verabschiedet würde, wäre es verbindlich, wichtige Naturschutzmaßnahmen zu ergreifen, die Agrarlandschaften mit Schutz- und Rückzugsflächen auszustatten und Lebensräume besser zu vernetzen. Mehr artenreiches Grünland entstünde, das viele Insekten schützt. Noch offen ist, wie der Pestizideinsatz geregelt werden soll, da dies in der Zuständigkeit des Landwirtschaftsministeriums unter Julia Klöckner (CDU) liegt.
Vor zwei Jahren kamen die Krefelder Entomologen zu dem Schluss, dass in Deutschland das Insektensterben das größte und zentrale Problem beim Artensterben sei. Der enge Zusammenhang zwischen dem Verlust der Biodiversität und dem Insektenschwund alarmierte auch die Wissenschaft. Auf der Deutschen Entomologentagung, der größten Fachveranstaltung in Europa, fand im Herbst 2019 zum ersten Mal eine eigene Vortragsreihe mit dem Titel »Biodiversity Decline and Loss of Insects« statt. Die Studie des Entomologischen Vereins Krefeld (EVK) zeigt auf der Basis von 30 Jahren Feldforschung an über 60 verschiedenen Standorten in westdeutschen Naturschutzgebieten, dass die Biomasse, die auf Insekten entfällt, in diesem Zeitraum um durchschnittlich 75 Prozent zurückgegangen ist. Das Resümee der Krefelder Laienforscher: Nirgendwo in den Untersuchungen findet sich ein Hinweis darauf, dass es rein lokale Ursachen für das rätselhafte Insektensterben geben könnte. Insekten verschwinden über viele Jahre an vielen Orten gleichzeitig. Damit ist eine neue Qualität des Insektenverlustes erreicht. Zwar gibt es weiterhin Forschungsdefizite, einige besorgniserregende Erkenntnisse dürfen jedoch als gesichert gelten. So geht die Artenvielfalt und Populationsdichte bei den Tagfaltern, Zikaden und Wildbienen zurück, bei Letzteren werden bei knapp der Hälfte der 561 Arten Rückgänge beobachtet.
Das Verschwinden der Insekten ist kein isoliertes Einzelproblem, das unabhängig von den dicht verwobenen Nahrungsnetzen der Ökosysteme betrachtet werden kann. Fast drei Viertel aller Tierarten in Deutschland, rund 33 000, sind Insekten. Sie ernähren sich von Pollen und Nektar und tragen so nebenbei die Pollen von einer Pflanze zur anderen. Bestäubt werden die Pflanzen nicht nur von Wildbienen, sondern auch von vielen Fliegen, Schmetterlingen, Hummeln, Käfern, Motten und Wespen. 80 Prozent der Wildpflanzen sind bei der Bestäubung von Insekten abhängig. Bodeninsekten spielen beim Abbau der organischen Substanz und als Aufbereiter des Bodens eine wichtige Rolle. Ohne die von Insekten bestimmten Zersetzungsprozesse wird Pflanzenmaterial wesentlich langsamer abgebaut und Nährstoffe werden langsamer wieder verfügbar gemacht. Insekten sind für die Gewässerreinigung und die Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit unverzichtbar.
Besonders wichtig sind Insekten für die Ernte von Nutzpflanzen. Es müsste mit großen Ernteausfällen gerechnet werden, würden die natürlichen Bestäubungsleistungen der Insekten ausfallen. Dies wäre besonders dramatisch für den Obst- und Gemüseanbau, aber auch großflächig angebaute Ackerkulturpflanzen wären betroffen. 60 Prozent der Vögel sind auf Insekten als Nahrung angewiesen. Ein Blick in die Roten Listen zeigt, dass die sogenannten Offenlandarten unter den Vögeln, die für ihr Überleben auf Feldflure, Wiesen, Weiden und Äcker angewiesen sind, am stärksten durch den Insektenschwund gefährdet sind. Für einige von ihnen ist die Lage bereits existenzbedrohend, ein prominentes Beispiel ist das Rebhuhn. Es ist belegt, dass die Anzahl der vorhandenen Insekten ab dem Schlüpfen der Rebhuhnküken die Populationsgröße der Art im Folgejahr bestimmt. Nach einem Bericht des Bundesamtes für Naturschutz ging der Rebhuhnbestand im vergangenen Jahrzehnt um etwa die Hälfte zurück.
Die Ursachen des Insektensterbens sind zwar nicht endgültig erforscht. Die vorliegenden wissenschaftlichen Ergebnisse belegen jedoch deutlich, dass Pflanzenschutzmittel auf Insekten entweder direkt oder indirekt schädlich wirken, indem sie die Nahrungsnetze unterbrechen und sich auf Lebensräume auswirken. Mindestens so schwerwiegend ist die abnehmende Vielfalt von Lebensräumen. Heiden und Hecken, Moore und Magerrasen, Blühwiesen und artenreiche Weiden, naturnahe Fließ- und Stillgewässer – alle wichtigen Habitate für Insekten sind in den vergangenen Jahrzehnten erheblich reduziert worden. Insbesondere auf den riesigen Agrarflächen werden oft nur noch Pflanzen wie Mais und Weizen angebaut, die den Insekten keine Nahrung bieten, da sie vom Wind bestäubt werden. Insekten benötigen nicht nur andere Pflanzen, sondern auch Strukturelemente zwischen den Anbauflächen, also etwa Blühstreifen, Hecken oder Brachen. »Das größte Problem der Insekten mit der intensiven Landwirtschaft ist nicht der Einsatz von Insektiziden. Viel schlimmer ist, dass in Deutschland auf riesigen Flächen nur noch einige wenige Pflanzen wie Mais und Weizen angebaut werden. Solche Flächen sind für viele Kerbtiere wie grüne Wüsten, in die sie gar nicht erst hineinfliegen. Da bedarf es gar keiner Insektizide mehr, die Insekten verschwinden auch so«, sagt Jürgen Gross, Präsident der Deutschen Gesellschaft für allgemeine und angewandte Entomologie, im Gespräch mit der Jungle World.
Kritische Wissenschaftler und Naturschützer sind sich weitgehend einig, dass beim Insektenschutz letzten Endes nur eine Biodiversitätsprüfung für alle neuen Gesetze, Verordnungen, Durchführungsbestimmungen und für sämtliche staatlichen Subventionen und Wirtschaftsförderungsmaßnahmen helfen kann. Eine verbindliche Biodiversitäts- und- Nachhaltigkeitsprüfung würde besser gewichten, was systemrelevant und überlebenswichtig ist und was nicht. Genau genommen geht es um die Realisierung zweier uralter Prinzipien der Umweltpolitik: um das Vorsorgeprinzip und das Verursacherprinzip. Sie sollen verhindern, dass Gefahren für die Umwelt überhaupt erst entstehen, und dazu anleiten, frühzeitig und vorausschauend zu handeln, um Belastungen zu vermeiden.