Ein in Ohio entgleister Zug mit Chemikalien sorgte in den USA für heftige politische Debatten

Schwarze Wolken über Ohio

In der Kleinstadt East Palestine in Ohio entgleiste Anfang Februar ein Zug mit gefährlichen Chemikalien. Donald Trump besuchte die Stadt, um sich als Verteidiger der Menschen von Ohio zu stilisieren.

Donald Trump war in seinem Element. »Ihr seid nicht vergessen«, sagte er, »wir stehen an eurer Seite. Wir beten für euch. Und wir werden an eurer Seite stehen und mit euch kämpfen, dass Ihr die Verantwortlichkeit erfahrt, die euch zusteht.« Hinter dem ehemaligen Prä­sidenten standen Einwohner der Kleinstadt East Palestine in Ohio und ein Feuerwehrtruck, an den Masten waren US-Flaggen gehisst. Acht Jahre, nachdem Trump zu seinem ersten Präsidentschaftswahlkampf mit dem populistischen Versprechen angetreten war, für die »vergessenen Männer und Frauen Amerikas« gegen das Washingtoner Establishment zu kämpfen, war er zurückgekehrt in den American Midwest, in die zum Mythos gewordene Landschaft der Kleinstädte und Vororte, wo aus konservativer Sicht die Welt noch in Ordnung ist. Und erneut machte er Wahlkampf.

Am 3. Februar entgleiste unweit der 5 000-Einwohner-Stadt East Palestine in der Nähe von Pittsburgh ein Teil eines Güterzugs. 20 der insgesamt 151 Waggons des Zuges transportierten gefährliche Chemikalien, darunter das zur Herstellung von PVC-Kunststoffen genutzte hochgiftige Vinylchlorid. Einige der entgleisten Waggons gerieten in Brand. Im Umkreis von 1,6 Kilometern mussten die Bewohner evakuiert werden. Einsatzkräfte ließen aus Waggons giftige Chemikalien entweichen und verbrannten sie kontrolliert, um eine mögliche Explosion zu verhindern. Tagelang standen über der Kleinstadt schwarze Wolken, giftige Gase entwichen in die Luft. Auch in nahegelegenen Flüssen starben Tausende Fische. Erst neun Tage später, am 12. Februar, waren alle Brände gelöscht.

Hätte sich das Unglück »in einer dicht besiedelten schwarzen Nachbarschaft ereignet, wäre es die Story Nummer eins in den Nachrichten«, sagte der republikanische Propagandist Charlie Kirk.

Die Bilder der sich bedrohlich über der Stadt auftürmenden Brandwolken verbreiteten sich in den sozialen Netzwerken. Aus dem Bahnunglück in Ohio wurde eine virale Sensation – und schnell setzte sich in zahlreichen Tiktok-Videos und Twitter-Posts die Behauptung durch, hier spiele sich eine gewaltige Katastrophe ab, während die Regierung untätig zuschaue. Politiker der Republikanischen Partei kritisierten die Bundesregierung und insbesondere Präsident Joe Biden dafür, dass sie zu spät und zu zögerlich reagiert und die Einwohner der Kleinstadt im Stich gelassen hätten.

Schon am 8. Februar hatten die Behörden den evakuierten Bewohnern mitgeteilt, sie könnten in ihre Häuser zurückkehren. Das Trinkwasser sei nicht gesundheitsgefährdend und auch die Atemluft stelle kein Gesundheitsrisiko mehr dar. Doch in der Stadt war die Stimmung aufgeheizt. Anwohner klagten über gesundheitliche Probleme und Atembeschwerden, Umweltaktivisten reisten an, um sie zu unterstützen, aber ebenso Rechtspopulisten. In deren Medien wurde behauptet, die Regierung und der publizistische Mainstream interessierten sich für den Vorfall nicht, weil es sich bei den Bewohnern der Kleinstadt in Ohio um mehrheitlich republikanische Wähler handele, die bei der vergangenen Präsidentschaftswahl für Trump gestimmt hatten. »Kein einziges Mitglied des Biden-Regimes würde es wagen, in diesen Teil Ohios zu fahren und die Luft zu atmen, weil sie wissen, dass es gefährlich ist«, ­sagte der republikanische Propagandist Charlie Kirk auf seinem Podcast. Hätte sich das Unglück »in einer dicht besiedelten schwarzen Nachbarschaft ereignet, wäre es die Story Nummer eins in den Nachrichten«.

Auch Trump, der längst begonnen hat, für seine Nominierung als Präsidentschaftskandidat der Republikaner Wahlkampf zu machen, schaltete sich ein. Wie die Washington Post später kommentierte: »Die Bilder einer bedrohlich aussehenden schwarzen Rauchfahne über East Palestine« symbolisierten »für einige die Vorstellung von dunklen Bedrohungen, die über dem kleinstädtischen Amerika schweben«.

Am Donnerstag voriger Woche reiste Trump schließlich persönlich nach East Palestine, verteilte Wasserflaschen mit Trump-Etikett an die Bewohner und griff heftig den amtierenden Präsidenten an. Biden weigere sich, den Einwohnern von East Palestine zu Hilfe zu eilen. »Zu oft wurde eure Güte und Beharrlichkeit mit Gleichgültigkeit und Verrat belohnt«, polemisierte Trump.

2016 war es genau sein Wahlerfolg in ländlichen Kleinstädten wie East Palestine in den von Deindustrialisierung betroffenen Bundesstaaten des Mittleren Westen wie Ohio gewesen, der Trump zu seinem Überraschungssieg gegen Hillary Clinton verholfen hatte. Hier wohnt jene white working class, als deren Vertreter Trump sich mit seiner nationalistischen Rhetorik gerierte – das wahre, hart arbeitende Amerika, das von den »globalistischen Eliten« und den Liberalen in den Großstädten ignoriert und verachtet werde. »Diese Gemeinde hat das zähe und widerstandsfähige Herz Amerikas gezeigt«, sagte Trump nun in seiner Rede in East Palestine. »Und das ist es – genau das hier ist wirklich Amerika. Wir stehen in Amerika.«

Wie um den Punkt zu unterstreichen, stand neben Trump der republikanische Senator für Ohio, J. D. Vance, der 2016 mit seinem autobiographischen Buch »Hillbilly Elegy« über seine Kindheit und Jugend unter ärmlichen Umständen im sogenannten Rostgürtel Ohios Bekanntheit erlangt hatte. Das Buch war ein Bestseller, und Vance wurde von den Medien zu einer Art Experte für die »weiße Arbeiterklasse« gekürt, deren Frustrationen und Probleme Trumps überraschenden Wahl­erfolg erklären sollten. Zwar war die Geschichte der wirtschaftlich abgehängten Trump-Wähler eher ein Mythos als eine soziologische Tatsache – schaute man sich nicht nur die kleine Wählergruppe an, die in wahlentscheidenden Bundesstaaten wie Ohio den Ausschlag gab, sondern das gesamte Land, waren die Wähler Donald Trumps an ihrem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen gemessen deutlich wohlhabender als die Hillary Clintons – doch entwickelte sie in der polarisierten politischen Debatte der folgenden Jahre eine große Wirkung. Auch J. D. Vance, Yale-Absolvent und erfolgreicher Manager einer Investmentfirma, erkannte das, legte eine politische Wandlung vom Trump-Kritiker zu einem seiner treusten Unterstützer hin und gewann als ultrapopulistisch auftretender Kandidat der Republikaner 2021 in seinem Bezirk die Senatswahlen.

Das Unglück von East Palestine bietet alle Zutaten für eine Rhetorik, wie Trump sie liebt: einfache Amerikaner, die angeblich von der Regierung im Stich gelassen wurden; ein geldgieriger Logistikkonzern, Norfolk Southern, der für die Katastrophe verantwortlich sei und versuche, sich um Entschädigungszahlungen zu drücken; Infrastruktur, die immer mehr verfällt, was den Niedergang der USA anzeige. Und dazu die Andeutung, dass die Regierung das wahre Ausmaß der Katastrophe vertuschen wolle. Gerade das sprach offenbar viele zu Verschwörungstheorien neigende Anhänger der Repu­blikaner an, die überzeugt sind, dass die Regierung auch das wahre Ausmaß der gesundheitlichen Schäden durch die Impfung gegen Covid-19 systematisch verheimliche.

Es wirkte dagegen fast hilflos, wie die demokratische Bundesregierung darauf beharrte, dass sie von Anfang an die Rettungsmaßnahmen des Bundesstaats unterstützt habe. »Die Republikaner im Kongress und die ehemaligen Mitglieder der Trump-Regierung schulden East Palestine eine Entschuldigung dafür, dass sie sie an die Lobbyisten der Bahnindustrie verkauften, als sie Bahnschutzregularien der Obama-Biden-Regierung abgebaut haben«, versuchte ein Pressesprecher des Weißen Hauses die Debatte zur aus der Sicht der Demokraten entscheidenden Frage zu lenken. Die Trump-Regierung habe kurz vor ihrem Abtreten Ende 2020 mit umfassenden Deregulierungen Geschenke an zahlreiche Industrien und Lobbygruppen gemacht, kritisierte auch Verkehrsminister Pete Buttigieg, als er wenige Tage nach Trump East Palestine besuchte. Außerdem wiesen demokratische Politiker darauf hin, dass Unglücke wie in East Palestine zeigten, wie wichtig eine starke Bundesumweltschutzbehörde sei, deren Budget und Befugnisse die Trump-Regierung jedoch systematisch beschnitten hatte.

Das linke Magazin Jacobin wies auf einen Aspekt hin, der in der öffentlichen Debatte weniger beachtet wurde: Viele Bahnunternehmen in den USA haben in den vergangenen Jahren die Zahl ihrer Angestellten stark reduziert. Wie das gemeinnützige Medium More Perfect Union berichtete, habe das Unternehmen Norfolk Southern, dessen Zug in East Palestine entgleist ist, zwischen 2002 und 2022 die Zahl der Angestellten um ein Drittel reduziert und im gleichen Zeitraum seine Profite verdoppelt. Die Belastung der verbliebenen Arbeiter nehme immer mehr zu, schrieb Jacobin. Das Ergebnis sei »ein größere Wahrscheinlichkeit von Fehlern in einer Branche, wo Unfälle Leben kosten können«.

Doch von solchen Fragen wollen die Populisten der Republikanischen Partei nichts wissen. Trump schlachtete stattdessen den Umstand aus, dass Präsident Biden zur gleichen Zeit wie Trumps Besuch in Ohio nach Kiew gereist war, um den ukrainischen Präsidenten zu treffen. »Ich hoffe, dass, wenn eure Vertreter und eure Politiker, einschließlich Biden, es hierhin schaffen und zurück aus der Ukraine kommen, dass sie dann noch Geld übrighaben werden«, sagte Donald Trump in East Palestine. 117 Milliarden US-Dollar hätten die USA bereits an die Ukraine gezahlt. Der republikanische Senator von Missouri, Josh Hawley, sagte auf Fox News, seine Partei müsse sich ­entscheiden: »Ihr könnt entweder die Partei der Ukraine und der Globalisten sein oder die Partei von East Palestine und der arbeitenden Bevölkerung Amerikas.«