Die faulen Kompromisse der Grünen als Regierungspartei

Grüne Inszenierung

Der Pragmatismus ihres Führungspersonals könnte Bündnis 90/Die Grünen noch schwer in die Bredouille bringen.
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Stehender Applaus am Anfang, stehender Applaus am Ende und dazwischen eine immer wieder durch Beifall unterbrochene Rede, in der der Partei die Leviten gelesen wurden. Die begeisterten Reak­tionen auf den Auftritt von Luisa Neubauer auf der Bundesdelegiertenkonferenz, wie die Grünen ihren Parteitag nennen, Mitte Oktober in Bonn standen eigentlich in Kontrast zu der nicht gerade euphorischen Botschaft, die die Fridays-for-Future-Aktivistin ihren Parteifreunden mitgebracht hatte. »Die Realität ist, dass in jedem Augenblick, in dem jemand hier im Raum sagt, ›Wir machen doch schon‹ oder ›Das ist doch ein guter Schritt fürs Klima‹, irgendeines eurer Kinder an der eigenen Zukunft verzweifelt«, beklagte sie den »ökologischen Hyperrealismus«, der bei den Grünen Einzug gehalten habe. Da werde erklärt, »dass man sich nicht im Kleinen verkämpfen soll«, und da würden »klimafeindliche Entscheidungen so plausibel verteidigt – wenn man still ist, hört man irgendwo ein Ökosystem weinen vor Rührung«, sagte Neubauer.

Früher wäre solch eine Rede als Generalangriff auf die Parteispitze verstanden worden. Heutzutage klatscht diese zufrieden: Die Inszenierung ist gelungen. Wie einst bei SPD-Parteitagen der alte weise Erhard Eppler den erfreuten Delegierten die sozialdemokratischen Grundwerte predigte, bevor sie wieder zur »realpolitischen« Tagesordnung zurückkehrten, durfte die 26jährige Neubauer den Grünen ins Gewissen reden. Praktische Konsequenzen hat auch das nicht. Entgegen ihrem eindringlichen Appell stimmte der Grünen-Parteitag kurz nach ihrer Rede gegen die Rettung des rheinischen Dorfs Lützerath, das den Braunkohlebaggern weichen soll. Selbstverständlich schweren Herzens. Aber was muss, das muss.

Neubauer und sie hätten halt »unterschiedliche Rollen«, hatte ihr zuvor die zwei Jahre ältere Co-Vorsitzende der Grünen, Ricarda Lang, freundlich geantwortet. »Ich glaube, dass es wichtig ist, dass wir uns diese unterschiedlichen Rollen zugestehen.« Was sie meinte: Mit ihrem Weltrettungsimpetus kompensiert Neubauer den Pragmatismus des grünen Führungspersonals. Und so wurde auf dem Parteitag allen zugejubelt: Neubauer ebenso wie den Bundesvors­itzenden Lang und Omid Nouripour sowie selbstverständlich auch den beiden Lichtgestalten der Partei, Robert Habeck und Annalena Baerbock.

Kompromisse, vor allem faule, lassen sich besser verkaufen, wenn sie vermeintlich einer großen Sache dienen. Im Fall von Lützerath dem Kohleausstieg 2030 in Nordrhein-Westfalen, der ansonsten gefährdet sei, wie der grüne nordrhein-westfälische Umweltminister Oliver Krischer die Delegierten beschwor. Die Strategie ist nicht risikolos. Denn solche »Deals« stoßen bei Klimabewegten nicht gerade auf Begeisterung. Wie der Hambacher Forst könnte sich das kleine Lützerath zu einem bundesweiten Symbol des Widerstands gegen den Mega-Erderhitzer Braunkohle entwickeln – mit den Grünen notgedrungen auf der Seite der Befürworter. Noch nicht ausgestanden ist auch der Konflikt um die drei noch in Betrieb ­befindlichen deutschen Atomkraftwerke. Mit dem Streckbetrieb der beiden süddeutschen Atomkraftwerke Isar 2 und Neckarwestheim 2 bis zum Frühjahr des kommenden Jahres hatte sich die grüne Basis bereits auf dem Bonner Parteitag abgefunden. Nun kommt dank des Ukases von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) noch das Atomkraftwerk Emsland in Niedersachsen dazu, das ebenfalls bis zum 15. April 2023 weiterlaufen soll – dabei hatten die Grünen das mit einem Parteitagsbeschluss abgelehnt.

Dass Scholz unmittelbar nach dem Parteitag der Grünen von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht hat, half Wirtschaftsminister Habeck aus der Patsche, der schon bei der inzwischen wieder kassierten Gasumlage eine schlechte Figur gemacht hatte. So blieb ihm erspart, als jemand zu erscheinen, dem bei einem an die Fundamente der Grünen gehenden Thema ein Koalitionskompromiss wichtiger erscheint als die Beschlüsse seiner Partei. Allerdings war das ein ziemlich billiger Taschenspielertrick. Denn die sagenumwobene Richtlinienkompetenz ist zwar grundgesetzlich verankert, steht aber in Mehrparteienregierungen de facto nur auf dem Papier. Vor Scholz bediente sich denn auch nur ein einziger Bundeskanzler dieses Instruments, das war der Christdemokrat Konrad Adenauer, der damit Mitte der fünfziger Jahre erst Außenminister Heinrich von Brentano und dann Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, also zwei Parteifreunde, disziplinierte.

»Im Kabinett werden Entscheidungen einvernehmlich getroffen, kein Koalitionspartner wird überstimmt«, haben SPD, Grüne und FDP in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart. Zu glauben, Scholz hätte sich daran nicht gehalten, ist lebensfremd und unpolitisch. Selbstverständlich hat er nicht ohne Einverständnis von Habeck und Finanzminister Christian Lindner (FDP) gehandelt, um einen gesichtswahrenden Ausweg für alle Beteiligten aus einer verfahrenen Situation zu finden. Ein solches Manöver lässt sich allerdings nicht häufig wiederholen. Außerdem könnte es die Grünen noch schwer in die Bredouille bringen.

Seit ihrer Gründung 1980 fordern die Grünen den sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie. Bei einer so langen Wartezeit scheinen ein paar Monate Streckbetrieb verkraftbar. Aber man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass im Frühjahr die Diskussion über den Weiterbetrieb der drei Atomkraftwerke auch darüber hinaus erneut aufflammen wird. Ob Habeck und die Grünen dann dem Druck werden standhalten können? Die Erinnerung an Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima mag bei manchen inzwischen verblasst sein, doch ein Ausstieg aus dem Ausstieg aus dieser Hochrisikotechnologie wäre nicht nur fatal, sondern könnte auch das grüne Image schwer beschädigen. Da würde dann auch stehender Applaus für Luisa Neubauer nicht mehr helfen.