Der Prozess wegen des jihadistischen Massenmords in Nizza 2016 beginnt

Massenmord vor Gericht

In Paris hat der Prozess wegen des Terroranschlags in Nizza im Juli 2016 begonnen. Der Haupttäter ist tot, verhandelt wird gegen acht mutmaßlich beteiligte Personen.

Es ist ein Mammutprozess, der wegen des jihadistisch inspirierten, massenmörderischen Lkw-Attentats in Nizza vom 14. Juli 2016 seit dem 5. September in Paris stattfindet. 865 Nebenklage­parteien sollen vernommen werden, 133 Anwälte nehmen teil, 64 Verhandlungstage sind geplant. Zugleich ist ­davon auszugehen, dass die Opfer und Nebenklageparteien von den Ergebnissen wohl enttäuscht sein werden. Denn es dürfte am Ende fast zwangsläufig so aussehen, als stünden die Strafmaße im Missverhältnis zu dem, worüber Monate hindurch verhandelt wurde: Hunderte Menschen wurden absichtlich überfahren, darunter eine Gruppe von Kindern an einem Süßigkeitenstand, nachdem sie alle das Feuerwerk am französischen Nationalfeiertag auf der Strandpromenade von Nizza angesehen hatten.

Dieser Widerspruch wird schwerlich zu vermeiden sein, denn es sitzt weder ein Haupttäter noch ein unmittelbar Tatbeteiligter auf der Anklagebank. Der psychisch instabile Jihadist Mohamed Lahouaiej-Bouhlel, der an jenem Hochsommerabend vor gut sechs Jahren den Lkw absichtlich durch die Menge steuerte und dabei insgesamt 86 Menschen tötete sowie über 400 verletzte, ist tot: Während er den Lkw lenkte, erschoss ihn die Polizei, um seine Mordfahrt zu stoppen. Der damals 31jährige Tunesier kann deswegen nicht mehr persönlich verurteilt werden.

Auf dem Computer des Täters fanden Ermittler unter anderem ein Bild der Flagge des »Islamischen Staats«, eines von Osama bin Laden sowie ein Titelblatt der Satirezeitung »Charlie Hebdo«.

Dennoch wird der Prozess, den die Opfer, Überlebenden und Hinterbliebenen brauchen, um das Horrorgeschehen aufzuarbeiten, nicht mit einer leeren Anklagebank stattfinden. Acht Beschuldigte, sieben Männer und eine Frau, nehmen dort Platz. Eine direkte und bewusste Beteiligung an der Tatvorbereitung, die sich auf alle Elemente des Täterwillens erstreckt, kann jedoch möglicherweise niemandem unter ihnen nachgewiesen werden.

Die Hälfte der Angeklagten ist albanischer, die anderen tunesischer Herkunft. Letztere Gruppe besteht zum einen aus Personen, die Lahouaiej-Bouh­lels von jihadistischer Ideologie be­einflusste Entwicklung in den Monaten vor der Tat zumindest kannten, und solche, die – wie auch die albanischen Beschuldigten – davon keine Kenntnis hatten und aus finanziellen Motiven am Verkauf von Waffen an ihn beteiligt waren.

Lahouaiej-Bouhlel selbst war in der letzten Phase vor seinem Tod offensichtlich vom Gewaltimage des »Islamischen Staats« (IS) angezogen und fas­ziniert. Die terroristische Organisation kontrollierte damals noch relevante Teile der Staatsgebiete Syriens und des Irak. Auf seinem Computer fanden Ermittler Fotos von Leichen und ein Bild der Flagge des IS, die Abbildung eines Titelblatts der Satirezeitung Charlie Hebdo, die im Januar 2015 von Jihadisten attackiert worden war, und ein Bild von Osama bin Laden.

Zuvor hatte Lahouaiej-Bouhlel mit Frömmigkeit nichts zu tun und auch keinen Lebenswandel geführt, der gläubigen Muslimen als »gottgefällig« gelten könnte. Er konsumierte Alkohol und Kokain, fastete nicht im Ramadan, war Salsa-Tänzer und baggerte auf krankhafte Weise wahllos und systematisch Frauen an. Seine Ehefrau, eine Cousine aus seinem Herkunftsland Tunesien, hatte die Scheidung beantragt und berichtete später in den Medien von regelmäßiger Gewalt gegen sie sowie die gemeinsamen Kinder; aber auch von Verhaltensweisen, die auf ernsthafte psychische Beeinträchtigungen schließen lassen. Ihr Mann urinierte und defäkierte beispielsweise ins gemeinsame Schlafzimmer. Dessen Vater hatte ihn bereits im Alter von 16 Jahren in Tunesien in psychiatrische Behandlung gebracht.

Der Sprecher des IS, Abu Mohammed al-Adnani, hatte im September 2014 die Devise ausgegeben, jeder Anhänger des IS könne ohne zentrale Planung und Koordination sich ein Auto oder einen Stein nehmen, um »Ungläubige – insbesondere die bösartigen und schmutzigen Franzosen« zu töten, und dadurch eine neue Form jihadistisch motivierter Attentate inspiriert. Die Organisation bekannte sich kurz nach dem Massenmord von Nizza zu ihm, ohne dass es einen Hinweis darauf gab, dass direkte Kontakte zwischen ihr und dem Täter aufgebaut worden waren.

Lahouaiej-Bouhlels Mordfahrt forderte auch zahlreiche muslimische Opfer. Die erste zu Tode gefahrene Frau an jenem Abend war die 60jährige Fatima Charrihi, eine marokkanische Mutter von sieben Kindern. Ihre Tochter Latifa gehört zu den Nebenklageparteien, die seit Jahren für die Aufklärung der Hintergründe der Tat streiten. Die ­Tageszeitungen Le Figaro und La Croix berichteten bereits in der Woche nach der Tat, 30 der Opfer oder jedenfalls ihre Familien seien muslimischen Glaubens, eine Zahl, die zur Prozesseröffnung von der Libération erneut aufgegriffen wurde. Unter den Opfern befanden sich ferner Besucher Nizzas aus zehn Nationen. Insgesamt 2 500 Menschen wurden bislang aus dem staatlichen französischen Fonds für Terrorismusopfer entschädigt. Es handelt sich um jenen Teil der insgesamt 25 000 Zuschauerinnen und Zuschauer des Feu­erwerks, die aufgrund ihrer Plätze vom Lkw hatten erfasst werden können

Der Täter hatte vor dem Abend des Massenmords Feuerwaffen gekauft, die er auch zum Einsatz brachte, da an jenem Abend zwei Männer – Alexandre Nigues und Franck Terrier – ihn aufzuhalten versucht hatten. Einer von ihnen stieg auf das Trittbrett des Lkw, der andere warf seinen Motorroller unter dessen Räder. Doch die Pistole des Täters klemmte offenbar. Beide kamen bereits im Prozess zu Wort. Nigues berichtete, dass seine Ehe in die Brüche gegangen sei, weil er infolge des Erlebten traumatisiert war und sich immer aggressiver verhielt. Terrier beging ­einen Suizidversuch.

Die Waffen hatten dem Täter Angehörige der albanischen Mafia verkauft, den mutmaßlich Beteiligten drohen zwischen fünf und zehn Jahren Haft. Einer der mutmaßlichen Vermittler war dabei der Tunesier Ramzi Arefa. Zwei Landsleute, Mohammed Ghraieb und Chokri Chafroud, kannten darüber hinaus die jihadistisch beeinflussten ­Ideen Lahouaiej-Bouhlels, beide wurden auch mit dem oder in dem von dem späteren Täter am 11. Juli 2016 gemieteten Lkw fotografiert. Es ist allerdings unklar, ob ihnen bekannt war, wen Lahouaiej-Bouhlel zu ermorden beabsich­tigte und wo: Seinen Tatplan teilte er nicht unbedingt mit ihnen, und es schien auch denkbar, dass er mit dem Lkw zum Beispiel eine Polizeiwache oder ein Monument attackieren würde. Ghraieb und Chafroud drohen wegen Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung ohne individuellen Tatnachweis bis zu 20 Jahren Haft.

Die Angeklagten sollen in der letzten Verhandlungswoche zwischen dem 12. und 16. Dezember zu Wort kommen. Auf der Grundlage des Antiterrorgesetzes von 1986, das die Zuständigkeit für terroristische Straftaten in Paris konzentriert, findet der Prozess in der französischen Hauptstadt statt, was es vielen Opferfamilien schwermacht, direkt an ihm teilzunehmen. Die Verhandlungen werden jedoch in einem Saal in Nizza auf einer Leinwand übertragen.

Parallel dazu findet seit dem 12. September das Berufungsverfahren wegen der Attentate auf Charlie Hebdo und einen koscheren Supermarkt vom Januar 2015 statt. Im ersten Verfahren, das im Herbst 2020 eröffnet worden war, wurden 14 Angeklagte verurteilt. Nur zwei von ihnen, Ali Riza Polat – er erhielt 30 Jahre Haft und teilte die jiha­distische Ideologie der Attentäter –, und der zu 20 Jahren verurteilte Amar Ramdani legten Berufung ein. Die übrigen zwölf werden nicht an dem neu aufgerollten Verfahren teilnehmen. Dagegen legte letztlich keiner derer, die im Juli wegen der Massenmorde im Bataclan und auf Pariser Restaurantterrassen vom November 2015 verurteilt worden waren, Berufung ein.