Auf die Wiedervereinigung folgte Anfang der neunziger Jahre eine Welle rechter Gewalt

Sie sind Deutschland

Die Pogrome Anfang der neunziger Jahre waren konstitutiv für das vereinte Deutschland. Die rechte Gewalt gehört nicht der Vergangenheit an – ebenso wie die brutale Gewalt gegen Flüchtlinge an den EU-Grenzen.

Deutschland im Sommer 1992: Übergriffe auf Migranten und Migrantinnen, Linke, Obdachlose und alternative Jugendliche gehören vielerorts zum Alltag. Brennende Flüchtlingsunterkünfte, mehrere Tage währende rassistische Pogrome, Hetzjagden und Horrorgeschichten über den sogenannten Bordsteinkick prägen das Bild der rechten Gewalt jener Zeit. Eine ganze Generation wuchs mit dem ständigen Gefühl der Bedrohung durch Neonazis und rechte Jugendgangs auf.

Während eines Straßenfestes in der westdeutschen Kleinstadt, in der ich damals wohnte, verbrachte ich ganze Nächte mit anderen Jugendlichen und pakistanischen Geflüchteten vor ihren Container-Unterkünften, weil jederzeit mit Überfällen zu rechnen war. An Wochenenden schlug ich mir manchmal die Nacht im nahegelegenen Autonomen Zentrum um die Ohren, zu zweit auf dem Dachboden vor dem Notfall­telefon, den Ordner mit den Festnetznummern lokaler Antifaschistinnen zur Hand, um bei Angriffen auf Flüchtlingsheime die Telefonkette zu starten.

Angesichts der Militarisierung, Entrechtung und Entmenschlichung an den EU-Außengrenzen erscheint der sogenannte Asylkompromiss von 1992 heute wie eine Randnotiz.

Der Antifaschismus damals war pure Notwendigkeit: Der Verfassungsschutz zählte alleine für das Jahr 1992 insgesamt 722 rassistisch motivierte Brand- und Sprengstoffanschläge, mehr als zwei Drittel davon übrigens in Westdeutschland, zwei Anschläge pro Tag. Von 1990 bis 1993 fielen der Amadeu-Antonio-Stiftung zufolge knapp über 60 Menschen dem rechten Terror zum Opfer. 13 verbrannten in ihren Häusern, die anderen wurden auf offener Straße totgeprügelt oder erstochen. Unter dem Schlagwort »Baseballschlägerjahre« diskutierte man ab 2019 diese Zeit in der breiten Öffentlichkeit, eine Zeit die viele bis heute prägt: die von der Gewalt Betroffenen und Bedrohten, die Antifaschistinnen von damals, aber auch die nun in die Jahre ­gekommenen Rassisten der sogenannten Generation Hoyerswerda, die noch immer ihr Selbstbewusstsein aus dieser Zeit ziehen und, jetzt als Menschen im mittleren Alter, mit Pegida ab 2014 und den Protesten gegen Geflüchtete ab 2015 ein Revival erlebten.

Die mehrtägige Belagerung des sogenannten Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen im August 1992 und die Angriffe auf die dort und in den umliegenden Häusern untergebrachten vietnamesischen Vertragsarbeiterinnen und Romnja aus Rumä­nien waren der Höhepunkt der Welle rechter Gewalt im Zuge der sogenannten Wiedervereinigung. Es war ein rassistisches Volksfest mit Bratwurstbuden, Bierständen und Feierstimmung, das live im Fernsehen übertragen wurde. Bis zu 3000 Bürger und Bürgerinnen jubelten den Hunderten von Neonazis und rechten Hooligans zu, die Steine und Molotow-Cocktails auf das Haus warfen, in dem Menschen um ihr Leben fürchteten. Die Polizei schaute tatenlos zu.

Ein vier Tage anhaltendes Pogrom, das keineswegs überraschend kam und der gesellschaftlichen Stimmung entsprach. »Die Bürger von Lichtenhagen rechneten mit dem geheimen Einverständnis der Autorität«, schrieb Detlev Claussen 1992 in einem Beitrag für die Zeit, denn die Regierenden hatten »die Asylbewerber als Objekte des Volkszorns vorbestimmt«. Die Reaktion der Regierung verschaffte der Gewalt im Nachhinein zusätzliche Legitimation. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) wies im Oktober, nur zwei Monate nach dem Pogrom, in seiner Rede auf dem CDU-Parteitag Migration als staatsgefährdende Bedrohung aus: »Die Grenze der Belastbarkeit ist überschritten. Wenn jetzt nicht gehandelt wird, stehen wir vor der Gefahr (…) eines Staatsnotstandes.«

Der Aufruf zum Handeln wurde verstanden: Vier Wochen darauf starben bei einem Brandanschlag auf ein von türkischen Familien bewohntes Haus in Mölln drei Menschen. Weitere zwei Wochen später beschloss der Bundestag die Änderung des Grundgesetzes, wodurch mit der Einführung des Konzepts »sicherer Herkunfts- und Drittstaaten« das individuelle Grundrecht auf Asyl faktisch abgeschafft wurde. Der rechte Terror hatte Erfolg. Oder anders: Er hatte seinen Zweck für die Regierenden erfüllt. Jochen Schmidt, ein ZDF-Journalist, der mit über 100 Vietnamesen im Sonnen­blumenhaus festsaß, als die Brandbomben in die unteren Stockwerke flogen, beschrieb das Pogrom später als »kontrollierte Eskalation des Volkszorns mit dem Ziel, die SPD zum Einlenken in der Asylfrage zu zwingen«.

Das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen und die rassistische Gewalt der frühen Neunziger waren konstitutiv für das neue, vereinte Deutschland. Und sie zeigen: Friedlich war die »Friedliche Revolution« von 1989 nur für die weiße deutsche Mehrheitsgesellschaft. Noch im Prozess der Vereinigung der beiden deutschen Staaten wandelte sich die gegen die SED-Herrschaft gerichtete Parole »Wir sind das Volk« zum nationalistischen Schlachtruf »Wir sind ein Volk«. In den Pogromen machte der Mob deutlich, wer nicht zum Volk gehört, und in der kollektiven Ge­waltausübung formierte sich das neue deutsche Wir. In Rostock, Hoyerswerda, Solingen, Mölln, Cottbus, Mannheim und vielen weiteren Orten wurde ein weiteres Mal gezeigt, dass Volk in Deutschland nur völkisch zu denken ist. Die Ausschreitungen am »Sonnenblumenhaus« wirkten dabei wie ein Fanal: Alleine in der darauffolgenden Woche kam es bundesweit zu 40 Brand­anschlägen auf Flüchtlingsunter­künfte.

Heute, 30 Jahre später, erscheinen solche Verhältnisse kaum noch vorstellbar. Doch die Baseballschlägerjahre sind längst nicht überall vorbei und auch der rechte Terror hält an: Seit 2016 gab es der Statistik der Amadeu-Antonio-Stiftung zufolge 35 Todesopfer rechter Gewalt und im Schnitt kommt es in Deutschland zu zwei bis drei Angriffen auf Geflüchtete pro Tag. Aber das Ausmaß und die Form der Gewalt haben sich verändert – die große Mehrheit der Getöteten seit 2016 wurde bei rechtsterroristischen Anschlägen erschossen – und auch der gesellschaftliche Umgang damit. Das liegt auch ­daran, dass die deutsche Gesellschaft migrantischer geworden ist und die postmigrantischen Stimmen sich Gehör verschaffen.

Spätestens mit dem Versagen der Linken bei der Terrorserie des NSU, die ebenso wie die deutsche Mehrheits­gesellschaft nicht sehen wollte, dass eine neonazistische Untergrundbande mordend durch die Republik zieht, hat die Perspektive der Betroffenen auch in der antifaschistischen Erinnerung größere Bedeutung erlangt beziehungsweise wurde diese von ihnen erkämpft. Dies zeigt sich in den sogenannten NSU-Tribunalen und ganz besonders dem Gedenken an die neun Toten des rassistischen Amoklaufs in Hanau im Februar 2019. Selbst beim ­offiziellen Gedenken in Rostock-Lichtenhagen dieses Jahr ist das Bemühen sichtbar, Opfer von rechter Gewalt und rassistisch Diskriminierte zu Wort kommen zu lassen. Viele Stimmen der Angegriffenen werden beim Gedenken an das Pogrom vor 30 Jahren aber fehlen: Ein Großteil der Überlebenden wurde längst abgeschoben.

In all den anlässlich des Jahrestages zu erwartenden Beileidsbekundungen der Politik wird dieser Punkt keine Beachtung finden, nämlich dass die staatliche Migrationspolitik weitaus mehr Opfer zu verantworten hat als die rassistische Gewalt der Straße. Während das Ausmaß der alltäglichen rechten ­Gewalt von Anfang der neunziger Jahre heute nur noch schwer vorstellbar ist, hat die staatliche Gewalt bei der Flüchtlingsabwehr ein Ausmaß erreicht, das damals undenkbar schien.

Angesichts der Militarisierung, Entrechtung und Entmenschlichung an den EU-Außengrenzen erscheint der sogenannte Asylkompromiss von 1992 heute wie eine Randnotiz. Zugleich zeigen die rassistischen Ausschreitungen in Heidenau, Freital, Clausnitz und den anderen Orten, wo sich ab 2015 als Antwort auf den sogenannten Flüchtlingssommer der Volkszorn Bahn brach, dass die Bereitschaft zum Pogrom noch immer in der deutschen Gesellschaft vorhanden ist. Im offiziellen Gedenken findet diese Kontinuität rechter Gewalt keinen Platz. Rostock-Lichtenhagen wird als Abweichung von der Norm behandelt, nicht als deutsche Normalität.

Der Kulturwissenschaftler Kien Nghi Ha kritisierte das bereits vor zehn Jahren in einem von der Böll-Stiftung veröffentlichten Text: »Die Logik der ­politischen und medialen Ökonomie bringt es mit sich, dass Rostock-Lichtenhagen alle zehn Jahre aus der kollektiven Versenkung der deutschen Geschichte auftaucht, um nach dieser Pflichtübung für die nächsten Jahre wieder in die Vergessenheit abzutauchen.« Die Erinnerungsweltmeisterin Deutschland wird es auch dieses Jahr wieder schaffen, das Gedenken an das größte Pogrom der deutschen Nachkriegsgeschichte als Beweis der eigenen Aufgeklärtheit und Bewältigung der Vergangenheit zu präsentieren.

Rostock-Lichtenhagen ist aber keine Vergangenheit, sondern Abbild dessen, wozu die postnazistische deutsche Gesellschaft fähig ist. Die potentiellen Objekte des Volkszorns wissen das ­genau: Die Sozial- und Kulturanthropologin Tran Thi Thu Trang, im Jahr des Pogroms geboren, sagte im Gespräch mit dem Migazin aus Anlass des 30. Jahrestages: »Rostock-Lichtenhagen lehrte mich, dass von dem Punkt aus, an dem ich stand und nun stehe, kein Bild von Deutschland ohne die Kulisse jubelnder Menschen vor flammenden Häusern mehr zu zeichnen ist.«