Bei den Wahlen im Libanon haben die Hizbollah und ihre Verbündeten die Parlamentsmehrheit verloren

Fortgesetztes Patt

Bei der Wahl im Libanon verloren die Hizbollah und ihre Verbündeten ihre parlamentarische Mehrheit. Doch die schiitische Milizenpartei ist weiterhin die populärste Kraft im Land.

Vor allem junge Wählerinnen und Wähler drängten bei der libanesischen Parlamentswahl vom 15. Mai in die Wahllokale, denn bei ihnen ist der Wunsch nach politischer Veränderung besonders groß. Viele hatten zudem ihre politikverdrossenen Eltern und Großeltern überzeugen können, für die neuen Anti-Establishment-Parteien zu stimmen, die aus der Protestbewegung von 2019 hervorgegangen sind. Die Stimmung am Wahltag war heiter, Parteienvertreter verteilten Snacks und Getränke vor den Wahllokalen, um Unentschlossene möglicherweise noch auf ihre Seite zu ziehen. Abgesehen von kleinen Zwischenfällen verlief die Wahl friedlich. Die Wahlbeteiligung lag wie vier Jahre zuvor bei knapp 50 Prozent. Sie wäre vermutlich höher ausgefallen, hätte der ehemalige Ministerpräsident und korrupte Bauunternehmer Saad Hariri, die sunnitische Bevölkerung nicht zu einem Wahlboykott aufgerufen.

Nur ein umstrittenes Wahlgesetz, das etablierte Parteien im Libanon begünstigt, verhinderte, dass die Anti-Establishment-Parteien noch mehr Sitze gewannen.

Am Wahlabend verfolgten viele Libanesinnen und Libanesen die Stimmenauszählung gespannt vor den Bildschirmen. Schon die ersten Hochrechnungen zeigten, dass vor allem die Verbündeten der Hizbollah erhebliche Verluste zu verzeichnen hatten: Die schiitische Amal-Bewegung verlor drei Sitze und kam nur noch auf 14 von insgesamt 128 Parlamentssitzen, die christliche Marada verlor einen und kam nur noch auf zwei Mandate. Am stärksten traf es die Partei von Präsident Michel Aoun, die Freie Patriotische Bewegung. Sie erhielt 18 Sitze, sechs weniger als bei der Wahl 2018, aus der sie noch als Siegerin hervorgegangen war. Die Wählerwanderung hier kam vor allem den christlichen Widersachern der Hizbollah zugute: die Lebanese Forces errangen 18 Sitze und Kataeb fünf Sitze. Erstere ist nun stärkste Kraft im christlichen Lager.

Einen beachtlichen Erfolg erzielten die reformorientierten Neulinge: Parteien, die aus der Zivilgesellschaft und der Protestbewegung entstanden sind oder ihr nahestehen, darunter viele kleine Parteien und unabhängige Kandidaten, die sich in verschiedenen Wahlkreisen zu Listen »für den Wandel« zusammengeschlossen hatten. Sie erhielten auf Anhieb die zweitmeisten Wählerstimmen und 15 Mandate. Nur ein umstrittenes Wahlgesetz, das etablierte Parteien begünstigt, verhinderte, dass die Anti-Establishment-Parteien noch mehr Sitze gewannen. Auch in einer Hizbollah-Hochburg sorgten sie für eine Überraschung: Im Wahlkreis Südlibanon 3 errangen sie zwei Sitze. Es war das erste Mal, dass die Hizbollah und ihre Verbündeten dort nicht alle Mandate holten. Folglich ist die Stimmung im Lager der Reformkräfte hoffnungsvoll. Die große Unterstützung auch in schiitisch dominierten Gegenden verdeutlicht den Frust vieler Libanesinnen und Libanesen über die Führungsschicht – ein Frust, der über konfessionelle Trennlinien hinweg eint.

Das Wahlergebnis darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Hizbollah weiterhin große Popularität genießt. Tatsächlich holte sie die meisten Stimmen, konnte einen Sitz hinzugewinnen und kam damit auf 13 Mandate. Einzig das schlechte Abschneiden ihrer Verbündeten führte zum Verlust der parlamentarischen Mehrheit. Die Gegner der Hizbollah sind aber keineswegs geeint, auch nicht im Parlament. Die »Partei Gottes« kann sich bei wichtigen Entscheidungen weiterhin auf die Hilfe anderer Parteien verlassen.

So unterstützt Drusenführer Walid Jumblatt, eigentlich ein Kritiker der Hizbollah, die Wiederwahl des Amal-Vorsitzenden und Hizbollah-Alliierten Nabih Berri zum Parlamentssprecher – nach Präsident und Ministerpräsident das drittwichtigste Amt im Staat. Mit seiner  quasi Vetomacht dürfte Berri sämtliche Entscheidungen verhindern, die den Einfluss der Hizbollah beschränken könnten. Deren Generalsekretär, Hassan Nasrallah, hatte Tage nach der Wahl verlautbart, dass das Fehlen einer klaren Mehrheit alle politischen Kräfte zur Zusammenarbeit zwinge. In der Vergangenheit mangelte es jedoch nicht zuletzt der Hizbollah und ihren Alliierten immer wieder an Kooperationsbereitschaft bei wichtigen Reformprojekten.

Dem Libanon droht nun ein langanhaltendes politisches Patt. Die Regierungsbildung dauert erfahrungsgemäß lange. Nach der Wahl 2018 konnten sich die libanesischen Abgeordneten erst nach neun Monaten auf ein neues Kabinett einigen. Im Oktober 2022 endet außerdem die Amtszeit von Präsident Aoun. Das Geschacher ums Präsidentenamt könnte sich Monate oder sogar Jahre hinziehen. Der jetzige Präsident und sein Ministerpräsident werden die Amtsgeschäfte zunächst kommissarisch weiterführen und wichtige wirtschaftliche und politische Reformen wohl blockieren.

Das Land steckt in einer schlimmen Wirtschaftskrise und benötigt dringend Finanzhilfen. Die Weltbank und der Internationale Währungsfonds knüpfen diese jedoch an Bedingungen: die Reform der Zentralbank, die Einführung eines effizienten Steuersystems, den Abbau des völlig aufgeblähten Beamtenapparats. Statt die Ursachen der ökonomischen Krise anzugehen, erhöht die Regierung die Preise für Brot und Treibstoff und ab 1. Juli auch die Telekommunikationsgebühren. Nicht zuletzt die geplante Einführung der sogenannten Whatsapp-Steuer hatte 2019 zum Ausbruch der Proteste geführt. Die könnten nun wieder aufflammen.