Die Zensus 2022 genannte Volkszählung gehört zum Verwaltungsmanagement von oben

Der unbemerkte Zähltag

In der vergangenen Woche begannen die bundesweiten Befragungen für die »Zensus 2022« genannte Volkszählung – ohne relevante Proteste.

»Der Zensus ist die Wiederholung der Volkszählung von 1987 mit anderen Mitteln«, sagt Michael Ebeling vom Redaktionskollektiv der Organisation Freiheitsfoo im Gespräch mit der Jungle World. »Das Grundproblem war damals: Warum muss der Staat diese ganzen Daten von mir sammeln und an einer zentralen Stelle speichern?«

Die Gesamtprojektleiterin des Zensus 2022, Katja Wilken, verweist im Gespräch mit der Jungle World darauf, dass »zum Schutz der Daten beim Zensus 2022 strengste gesetzliche Vorgaben« gälten. »Das Statistikgeheimnis beziehungsweise die statistische Geheimhaltung verpflichtet alle Beteiligten – also Interviewerinnen und Interviewer sowie Beschäftigte in den statistischen Ämtern –, die beim Zensus erteilten Angaben nicht weiterzugeben«, so Wilken.

Wer befragt wird, muss antworten. Das Zensusgesetz 2022 enthält eine Auskunftspflicht. Kommt man dieser Pflicht nicht nach, droht ein Zwangsgeld.

Ebeling, der sich seit vielen Jahren kritisch mit Volkszählungen, Datenschutz und Persönlichkeitsrechten auseinandersetzt, geht es aber um mehr: »Dahinter steckt die Frage nach der Macht über die Daten und damit auch über die je eigene Selbstbestimmung. Kann ich selbst entscheiden, wann wo welche Daten von mir verarbeitet werden? Oder kann der Staat damit machen, was er will?« Durch die Proteste gegen die Volkszählungen von 1983 und 1987 sei ein Schutzbedürfnis entstanden, so Ebeling, »einfach schon deshalb, weil Daten zunehmend leichter auszutauschen waren«.

Die Bundestagsabgeordnete Misbah Khan (Bündnis 90/Die Grünen) betont im Gespräch mit der Jungle World den Nutzen der Daten: »Politische Entscheidungen dürfen nicht auf gefühlten Annahmen beruhen, daher ist es sehr wichtig zu wissen, wie unsere Gesellschaft aufgebaut ist.« Als Beispiel nennt sie die Fragen zu den Wohnverhältnissen. In diesem Jahr würden »neue Merkmale, wie die Nettokaltmiete oder Leerstandsgründe, abgefragt«, so Khan;  das seien »Informationen, die für eine soziale Wohnungspolitik elementar sind«.

Im Gegensatz zur Volkszählung im Jahr 1987, die von einer großen Bewegung boykottiert und sabotiert wurde und deren Ergebnisse entsprechend unbrauchbar waren, lief bereits der Zensus 2011 weitgehend ungestört ab. Einerseits hatte man die Zahl der Fragen reduziert und ganze Bereiche ausgespart, andererseits – und dies war entscheidend – wurde nur noch eine Stichprobe von etwa zehn Prozent der Privathaushalte befragt, um mit den so erhobenen Daten die Melderegister zu korrigieren und statistische Angaben zu kontrollieren. In der Folge gab es nur vereinzelt Proteste und Klagen gegen den Zensus 2011, beispielsweise von einigen alternativen Wohnungsbaugenossenschaften.

Seit 2016 gilt in der EU die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Diese ist grundlegend für den Datenschutz – auch in Deutschland. Zurück geht die DSGVO auf die Proteste gegen die Volkszählungen 1983 und 1987 in der BRD. Die damit verbundenen Boykottaufrufe hätten, so Ebeling, »die Volkszählung 1987 zwar nicht verhindert, aber ein Bewusstsein für die Machtproblematik geweckt, die mit Daten verbunden sein kann«. Ein »nicht zu unterschätzendes Ergebnis« sei bereits das sogenannte Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts im Dezember 1983 gewesen, »das zum ersten Mal das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus der Verfassung ableitete – und die Volkszählung tatsächlich auf den letzten Metern stoppte«. Dieses Recht prägte den Daten- und Persönlichkeitsrechtsschutz in Europa, auf dem die DSGVO basiert. »Das Volkszählungsurteil ist eine der Wiegen des Datenschutzes überhaupt«, so Ebeling.

Vermutlich auch wegen der Vorgeschichte betont Wilken, dass »Datenschutz und Informationssicherheit« beim Zensus 2022 »den Anforderungen der Datenschutzgrundverordnung und den Vorgaben des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik« entsprächen. »Das Gesamtprojekt Zensus 2022 wird sowohl von der Aufsichtsbehörde für den Datenschutz – dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit – als auch vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik begleitet«, so Wilken.

Die grüne Bundestagsabgeordnete Khan sagt: »Es darf jedoch keine gläserne Bürgerin entstehen. Daher ist es wichtig, dass die Fragen wohldosiert sind. In diesem Jahr wird zum Beispiel nach den verwendeten Energieträgern zum Heizen gefragt. Welche politische Relevanz das haben kann, erleben wir derzeit durch den Krieg gegen die Ukraine.«

Auf Nachfrage, wie denn die Daten des Zensus 2011 genutzt worden seien, erklärt Wilken: Sie seien »nicht nur Planungs- und Entscheidungsgrundlage für Wirtschaft, Politik, Verwaltung und Wissenschaft, sondern auch eine nützliche Informationsquelle für alle Bürgerinnen und Bürger, die sich ein Bild über die vielfältigen Lebensverhältnisse in Deutschland machen möchten.« Tatsächlich stehen sie in einer frei zugänglichen Zensusdatenbank online zur Verfügung. »Auf Basis der ermittelten Bevölkerungszahlen finden grund­legende Vorgänge unserer Demokratie statt«, so Wilken, »es werden zum Beispiel die Wahlkreise eingeteilt und die Stimmenverteilung der Länder im Bundesrat festgelegt, auch der Länder- und kommunale Finanzausgleich, die Berechnungen für EU-Fördermittel und die Verteilung von Steuermitteln be­ruhen auf den Bevölkerungszahlen«.

Das Ganze klingt technokratisch, und das ist es auch: In erster Linie werden Daten für Verwaltungsvorgänge benötigt. Das zeigt sich schon daran, was abgefragt wird – und was nicht. So wird etwa der höchste Bildungs­abschluss und der ausgeübte Beruf abgefragt, also Daten über das zur Ver­fügung stehende Arbeitskräftematerial. Nicht gefragt wird hingegen danach, ob Arbeitsverhältnisse unbefristet oder prekär sind, Betriebsräten und Arbeitsschutz, nach Berufswünschen oder Weiterbildungsin­teressen.

Die Fragen zu den Wohnverhältnissen sollen Daten zur Wohnungsbelegung liefern, die in den Haushalten erfragt werden, und zur Miethöhe sowie zur Energieversorgung, über welche die Hausbesitzerinnen Auskunft geben müssen. Dabei bräuchte es die Erhebung gar nicht, um die wirklich drängenden Probleme zu erkennen. Wohnraummangel für Gering- bis Durchschnittsverdienende ist offensichtlich, der Mangel an Sozialwohnungen auch, die Notwendigkeit der Einführung eines Mietpreisdeckels und der Vergesellschaftung von Immobilienkonzernen ebenso wie auch die von Solarzellen auf Dächern und klimagerechter Sanierung von Altbauten. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen Verwaltungsmanagement von oben, das Eigentumsverhältnisse nicht in Frage stellt, und tatsächlich bedarfsorientierter Planung von unten.

Die »Praxisbeispiele« im sogenannten Factsheet zum Zensus 2022 des Statistischen Bundesamts zeigen dies überdeutlich: Die »Wohnungsmarkt­beobachtung« sei für die Förderbank des Landes Nordrhein-Westfalen interessant und der Themenbereich »Stadtentwicklung« könne der Bayerischen Landesbodenkreditanstalt helfen, »die bereitgestellten Mittel effizient einzusetzen«. Diese Ziele stehen einer kommunalen Bedarfsermittlung von der Basis her entgegen – und blenden soziale sowie ökologische Kriterien aus.

Von oben herab Deutschland zu gestalten, dafür werden die Daten be­nötigt. Damit sie verlässlich aufbereitet werden können, ist die Stichproben­befragung von zehn Prozent der Privathaushalte notwendig. Per Zufallsverfahren wurden Anschriften ausgewählt, an denen alle unter dieser Adresse gemeldeten Menschen befragt werden sollen, insgesamt etwa 10,3 Millionen Bürgerinnen und Bürger in allen Bundesländern. Wer befragt wird, muss antworten. Das Zensusgesetz 2022 ­enthält eine Auskunftspflicht. Kommt man dieser Pflicht nicht nach, droht ein Zwangsgeld. Mitte August sollen die Haushaltsbefragungen abgeschlossen sein. Parallel werden online sämtliche 23 Millionen Eigentümer von Wohnimmobilien befragt. Ende 2023 wird das aufbereitete statistische Material erwartet.

»Machen Sie mit beim Zensus«, sagte der Präsident des Bayerischen Landesamts für Statistik, Thomas Gößl, zum Start der Befragungen am 16. Mai, und er ergänzte: »Bitte seien Sie freundlich zu den Erhebungsbeauftragten.«