Russische Großmeister unter Zugzwang
»Schach ist Krieg auf dem Brett. Das Ziel ist es, die Gedanken des Gegners zu zerstören«, sagte der US-amerikanische Schachweltmeister Robert »Bobby« Fischer einst. Aber auch der reale russische Angriffskrieg gegen die Ukraine beeinflusst die Schachwelt. Am Brett treffen Apologeten, Mitläufer und Kritiker des russischen Großmachtstrebens aufeinander. In Zukunft allerdings seltener, denn der Weltschachverband Fide will allzu offensive Propagandisten des Regimes von Wladimir Putin von Turnieren ausschließen.
Innerhalb sehr kurzer Zeit distanzierte sich die Mehrheit der führenden Spieler und Organisationen von der russischen Kriegspolitik. Unbedeutend ist diese Entwicklung nicht, denn Russland hat sich im Laufe des 20.Jahrhunderts zum wichtigsten Schachland entwickelt. Schach ist dort nicht nur Breitensport. Russland stellt auch die mit Abstand größte Anzahl von Großmeistern, derzeit 240. Zurückzuführen ist das auf die Sowjetunion, die schon sehr früh das professionelle Schach förderte. Anders als im Westen konnten die besten Spieler dadurch von ihrem Sport leben. Diese Förderung führte zu einer beispiellosen Dominanz des erst sowjetischen und später russischen Schachs.
Mehr als 40 russische Meisterspieler forderten Anfang März in einem offenen Brief an Wladimir Putin ein Ende des Kriegs, darunter der WM-Finalist von 2021, Jan Nepomnjaschtschij, und der achtmalige russische Meister Pjotr Swidler.
Die Sowjetunion stellte von 1948 bis 1972 den Weltmeister, bis der US-Amerikaner Robert »Bobby« Fischer im wohl bis heute bekanntesten Match Boris Spasskij schlug. Fischer verteidigte seinen Weltmeistertitel allerdings nicht, der Russe Anatolij Karpow, der sich zuvor im Kandidatenturnier das Recht zur Herausforderung gesichert hatte, wurde daher 1975 noch vor seinem 24. Geburtstag kampflos zum neuen Weltmeister erklärt. Zehn Jahre später besiegte Garri Kasparow in einem dramatischen Ausdauermatch Karpow. Auf ihn folgte im Jahr 2000 Wladimir Kramnik. Erst 2007 brach der Inder Viswanathan Anand die russische Serie.
Nachdem Anand 2012 seinen Titel in Moskau gegen Boris Gelfand verteidigte, trafen der Champion und sein Herausforderer tags darauf Wladimir Putin. Als Anand erzählte, er habe Schach in seiner Heimatstadt Chennai im vom sowjetischen Kulturzentrum betriebenen »Tal Club« gelernt, benannt nach dem virtuosen lettisch-sowjetischen Weltmeister Michail Tal, antwortete Putin der Times of India zufolge: »So, we brought this upon ourselves.« Die Anekdote verrät viel über das Selbstverständnis der russischen Schachwelt: Nirgendwo ist Schach so institutionalisiert, und kaum ein Land nimmt den Weltmeistertitel und Turniersiege ernster als Russland. Aber sie verrät auch viel über Putin: Denn selbstverständlich sieht er den in Riga geborenen Tal als einen der Seinen.
Die andauernde Förderung des Schachsports in Russland hat ihren Preis. Von den Sportlerinnen und Sportlern wird Staatstreue erwartet, die diese allerdings nicht immer gewähren. Der exponierteste Kritiker russischer Staatspolitik ist wohl Garri Kasparow, der als Weltmeister noch Mitglied der Kommunistischen Partei der Sowjetunion war, mittlerweile aber die kroatische Staatsangehörigkeit angenommen hat und in den USA lebt. Er gründete die außerparlamentarische Oppositionsbewegung Solidarnost und fordert derzeit von der Nato, eine Flugverbotszone über der Ukraine einzurichten.
Weniger radikal, aber dennoch sehr deutlich nahm eine Gruppe von mehr als 40 russischen Meisterspielern Anfang März mit einem offenen Brief an Wladimir Putin Stellung, in dem sie ein Ende des Kriegs fordern. Unter den Unterzeichnern finden sich einige der besten und bekanntesten Schachspieler, zum Beispiel der Herausforderer des Weltmeisterschaftskampfs 2021, Jan Nepomnjaschtschij, oder der achtmalige russische Meister Pjotr Swidler.
Beim Fide Grand Prix in Belgrad Anfang März nutzte der russische Meister von 2009, Aleksandr Grischtschuk, die Pressekonferenz am zweiten Tag, um seine Bestürzung zu äußern. Er verwendete das Wort »Krieg« nicht, damit seine Stellungnahme auch in Russland veröffentlicht werden konnte. Sichtlich mitgenommen sagte er, der Angriff auf die Ukraine sei sehr schmerzlich für ihn. Er unterstütze Russland in 99 Prozent der internationalen Konflikte, diesmal sei er dazu jedoch nicht in der Lage.
Ziemlich resigniert äußerte sich der 25jährige Großmeister Daniil Dubow in einem Interview mit dem Spiegel: »Ein Atomkrieg könnte ausbrechen. Ich könnte das Ende der Welt verpassen, während ich die Italienische Eröffnung analysiere.« Bereits 2018 sagte Dubow – damals war er erstmals Meister im Schnellschach geworden –, in der Krim-Frage stehe er selbstverständlich vollständig auf der Seite der Ukraine. Als vergangenes Jahr bekannt wurde, dass Dubow den amtierenden norwegischen Weltmeister Magnus Carlsen gegen Nepomnjaschtschij unterstützte, kritisierten ihn insbesondere zwei russische Spieler: Sergej Karjakin und Sergej Schipow.
Karjakin und Schipow unterstützen den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine vehement und öffentlich. Karjakins Twitter-Account verbreitet seit Kriegsbeginn reichlich Falschnachrichten und Propaganda. In den vergangenen Jahren hat der in der damals noch sowjetischen Ukraine geborene Karjakin einen Ruf als russischer Nationalist erworben. Er ließ sich mit einem Putin-Shirt fotografieren und spielte ein öffentliches Freundschaftsspiel gegen den russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu.
Wegen seiner aggressiven Haltung zur Ukraine entschied die Ethikkommission der Fide, Karjakin für ein halbes Jahr von gewerteten Spielen auszuschließen. Das betrifft auch das prestigeträchtige Kandidatenturnier, bei dem der nächste Herausforderer des Weltmeisters ermittelt wird. Es wird immer wahrscheinlicher, dass der Chinese Ding Liren den Platz Karjakins im Turnier einnimmt. In der Begründung zur Sperrung Karjakins heißt es, dieser habe dem Ruf des Schachspiels, der Fide und ihrer Verbände geschadet.
Die Fide unternahm zudem weitreichende Schritte: Sie verlegte die kommende Schacholympiade von Russland ins indische Chennai und schloss die russischen sowie belarussischen Teams von ihr aus. Zudem verloren die russischen Staatsunternehmen Gazprom und Russische Eisenbahnen (RŽD) ihren Status als Partner der Fide, was mit durchaus beträchtlichen finanziellen Einbußen einhergeht.
Einigen ukrainischen Schachspielerinnen und -spielern geht das nicht weit genug. Am 2. März forderten sie, darunter prominente Spieler wie Wassyl Iwantschuk oder Anton Korobow, die nationalen Schachverbände auf, russische und belarussische Teilnehmer von ihren Turnieren kategorisch auszuschließen.
Gegen Karjakin, Schipow und auch gegen Karpow, der seit 2011 Duma-Abgeordneter für Putins Partei »Einiges Russland« ist, laufen derzeit in der Ukraine Strafverfahren. Besonders brisant ist die Rolle des Präsidenten der Fide, Arkadij Dworkowitsch, der als ehemaliger stellvertretender Ministerpräsident Russlands (2012–2018) die enge Verbindung des Schachsports mit der russischen Politik personifiziert. Dworkowitsch verfolgt bislang einen Schlingerkurs: Einerseits spricht er davon, dass der Krieg beendet werden müsse, andererseits kritisiert er die Sanktionen gegen Russland. Während ihm in Russland Vaterlandsverrat vorgeworfen wird, fordern nicht nur ukrainische Spieler und Verbände seinen Rücktritt. Ob es dazu kommt oder ob sogar seine Wiederwahl gelingt, ist unklar. Die derzeitigen Zerwürfnisse werden sicherlich ihre Spuren hinterlassen und zeigen, wie politisch Schach tatsächlich ist.