Die ukrainische Regierung schränkt Arbeitnehmerrechte ein

In Zeiten wie diesen

Politische Institutionen in der Ukraine haben unter Präsident Wolodymyr Selenskyj überaus zweifelhafte Schritte vollzogen. Gesetze und politische Maßnahmen schränken Arbeitnehmerrechte, die Tätigkeit weiter Teile der Opposition und die Unabhängigkeit der Medien ein.

Am 15. März hat das ukrainische Parlament ohne vorherige Diskussion ein Gesetz verabschiedet, das die Vorsitzende des Ausschusses für Sozialpolitik und Veteranenangelegenheiten, Halyna Tretjakowa, ein Mitglied der Partei von Präsident Wolodymyr Selenskyj, »Diener des Volkes«, eingebracht hatte. Der Präsident hat es am 23. März unterschreiben. Der Gesetzestext beinhaltet gravierende Änderungen im Arbeitsrecht, die so lange gelten sollen, wie das Kriegsrecht in Kraft ist. Dieses wurde kurz nach der russischen Invasion vom ukrainischen Parlament verhängt und ermöglicht es dem Präsidenten, mit Dekreten ohne parlamentarische Zustimmungen zu regieren.

Das neue Arbeitsgesetz erlaubt es Arbeitgebern, Tarifverträge einseitig zu kündigen, Gewerkschaften sollen zu bloßen Organen der »Bürgerkontrolle« degradiert werden, die die Einhaltung des Gesetzes überwachen. Private und staatliche Unternehmen erhalten weitreichende Zugeständnisse. Wenn Einrichtungen eines Unternehmens infolge der Kampfhandlungen zerstört werden oder nicht mehr funktionieren, kann es Beschäftigte mit einer Frist von zehn Tagen anstatt zwei Monaten kündigen. Zudem ermöglicht das neue Arbeitsgesetz solchen Unternehmen auch eine Kündigung wegen Abwesenheit, wenn Beschäftigte krank oder im Urlaub sind, Ausnahmen gibt es nur für Abwesenheiten wegen Schwangerschaft oder Elternzeit. Des Weiteren können Arbeitgeber die Wochenarbeitszeit von 40 auf 60 Stunden erhöhen und Urlaubstage streichen.

Beschäftigte, die verteidigungs­relevante Tätigkeiten ausüben – und zu diesen können alle Arbeitnehmer jederzeit verpflichtet werden –, dürfen ihre Stelle nicht mehr kurz­fristig kündigen.

Beschäftigte, die verteidigungsrelevante Tätigkeiten ausüben – und zu diesen können, sofern sie nicht gesundheitsschädlich sind, alle Arbeitnehmer jederzeit verpflichtet werden –, dürfen ihre Stelle nicht mehr kurzfristig kündigen. Das neue Gesetz entbindet die Arbeitgeber von vielen ihrer Verpflichtungen und weitet zugleich ihre Befugnisse aus. Die Beschäftigten werden damit vertröstet, dass der Staat, »der eine militärische Aggression begeht«, de facto also Russland, für wegen militärischer Angriffe ausbleibende Lohn- oder Gehaltszahlungen sowie andere Garantien und Entschädigungen aufkommen werde.

International mehr Aufmerksamkeit als das neue Arbeitsgesetz erhielt die Entscheidung des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats vom 18. März, die Arbeit von elf als »prorussisch« eingestuften Parteien für die Dauer des Kriegsrechts zu suspendieren. Darunter fällt die »Oppositionsplattform – Für das Leben«, die von als russlandfreundlich geltenden Oligarchen geführt wird, die früher der »Partei der Regionen« des ehemaligen Präsidenten Wiktor Janukowytsch nahestanden. Die Oppositionsplattform wurde bei den Parlamentswahlen 2019 mit 13 Prozent der Stimmen immerhin zweitstärkste Kraft nach der Partei »Diener des Volkes« und erstarkte danach in Umfragen noch weiter.

Betroffen sind neben diversen Zerfallsprodukten der Partei der Regionen, wie der »Oppositionelle Block« und das populistische Ein-Mann-Projekt »Partei Scharij« des im spanischen Exil lebenden Videobloggers Anatolij Scharij, auch Nachfolger der seit 2015 von Wahlen ausgeschlossenen Kommunistischen Partei der Ukraine (KPU), deren gerichtliches Verbot weiterhin angestrebt wird, wie der »Block linker Kräfte« und die »Linke Opposition«; außerdem die »Sozialistische Partei der Ukraine«, die noch 2004 bei der sogenannten Orangenen Revolution gegen Janukowytsch mitmischte. Viele der betroffenen Parteien sind zahlenmäßig unbedeutend und nicht im Parlament vertreten. Andere sind regionale Parteien, die vor allem im Osten des Landes gewählt wurden, wo viele Bürger den politischen Veränderungen nach dem Maidan-Umsturz 2014 skeptisch gegenüberstanden und sich bessere Beziehungen mit Russland wünschten.

Mit diesen Parteien wird also ein ganzes politisches Lager suspendiert, das mittlerweile zwar eine geringere Rolle als vor 2014 spielt, aber dennoch als politische Opposition präsent war. Offenbar befürchtet die Regierung, dass Vertreter dieser Parteien mit der russischen Besatzung kollaborieren könnten. Zwar traten ihre nationalen Vertreter deutlich gegen die russische Invasion auf, doch gibt es Berichte von Amtsträgern einzelner Städte, die mit der russischen Armee kooperieren. Größer dürfte vor allem die Befürchtung sein, aus den Reihen dieser Parteien könnte sich eine zu Verhandlungen und Zugeständnissen bereite Regierung von Russlands Gnaden formen.
Am 20. März unterschrieb Präsident Selenskyj ein Dekret des Nationalen Sicherheitsrats, dem zufolge alle nationalen Nachrichtensender zu einer einzigen »Informationsplattform« zusammengelegt werden sollen, die unter Kontrolle der Regierung stünde. Begründet wurde das mit der Notwendigkeit, im Krieg gegen russische Desinforma­tion eine einheitliche Informationspolitik durchzusetzen.

Sowohl das Vorgehen gegen die prorussischen Parteien als auch die Maßnahmen zur Kontrolle der Fernsehkanäle haben Präzedenzfälle aus dem Jahr vor Beginn des Kriegs. In der ukrainischen Politik gilt die Kontrolle über Fernsehkanäle als wichtig im politischen Machtkampf zwischen den Oligarchen. Selenskyj verdankt seinen politischen Aufstieg nicht zuletzt der positiven Darstellung durch den Fernsehkanal »1+1«, der mehrheitlich dem Oligarchen Ihor Kolomojskyj gehört. Der Oligarch und ehemalige Präsident Petro Poroschenko, Selenskyjs wichtigster Konkurrent aus dem rechtsnationalen Lager der Opposition, ist selbst Besitzer eines Fernsehsenders.

Hinzu kommt, dass gerade Medien der Anführer der Oppositionsplattform beschuldigt werden, Propaganda im Interesse Russlands zu verbreiten und damit eine Bedrohung für die Sicherheit der Ukraine darzustellen. Im Fe­bruar 2021 ließ Selenskyj, dessen Umfragewerte damals seit vielen Monaten sanken, unter Berufung auf nationale Sicherheitsinteressen die Sender der führenden Köpfe der Oppositionsplattform abschalten, beispielsweise Taras Kossaks »112 Ukraina«. 112.ua hatte wiederholt davor gewarnt, Selenskyjs Reformen und die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) würden die Ukraine in den wirtschaftlichen Kollaps treiben.

Damit verlor die stärkste Oppositionspartei im Februar 2021 von einem Tag auf den anderen ihr Sprachrohr. Begründet wurde das Verbot mit der Finanzierung aus Russland und und die Verstrickung der Eigentümer in Geschäfte mit den »Volksrepubliken« und Russland. Als Beleg dienten Erkenntnisse der Geheimdienste, die bislang unter Verschluss geblieben sind. Bald darauf begannen Ermittlungen gegen den Oligarchen Wiktor Medwedtschuk, die wichtigste Persönlichkeit der Oppositionsplattform.

Schon bevor ihre Tätigkeit am 18. März verboten wurde, zeigten die Maßnahmen der ukrainischen Regierung gegen die russlandfreundliche Opposition, dass diese weniger als Konkurrenz im Rahmen des demokratischen Pluralismus, sondern als Gefahr für die Souveränität des Staates betrachtet und nun auch als solche behandelt wird. Die Parteienlandschaft der Ukraine besteht dann faktisch nur noch aus liberal-konservativen und rechtsnationalistischen Kräften. Die russische Regierung begann im April vergangenen Jahres, also kurz nach Selenskyjs Stilllegung der oppositionellen Sender, Truppen an der ukrainischen Grenze zusammenzuziehen.