Der ukrainische Präsident Selenskyj will Kiew nicht verlassen

Der Präsident bleibt

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist in Kiew geblieben, das eingekesselt zu werden droht. Er ist einer der erfolgreichsten und beliebtesten demokratischen Politiker in der Geschichte des Landes.

Im Hintergrund Sandsäcke, die Fenster verdunkelt. Unter diesen Umständen unterzeichneten der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, Ministerpräsident Denys Schmyhal und Parlamentspräsident Ruslan Stefantschuk am Montag in Kiew den Antrag der Ukraine zum EU-Beitritt. Oft mehrmals täglich hat Selenskyj seit Beginn der Invasion Videos und Fotos von sich veröffentlicht, um zu zeigen, dass er nicht aus der ukrainischen Hauptstadt geflüchtet sei. Seine Ansprachen richteten sich immer wieder auch an die russische Bevölkerung.

Selenskyj gewann die Präsidentschaftswahl im Jahr 2019 mit 73 Prozent der Stimmen.

Am Morgen des 24. Februar, als die ersten russischen Truppen die Grenze passierten und Städte im ganzen Land mit Raketen beschossen wurden, sprach Selenskyj erst auf Ukrainisch und wechselte dann ins Russische. »Ich weiß, dass sie meine Rede nicht im russischen Fernsehen zeigen werden, aber die russische Bevölkerung muss sie sehen«, sagte er. »Sie sagen euch, dass die Ukraine eine Bedrohung für Russland ist, aber das war sie nie, ist sie nicht und wird sie auch in Zukunft nicht sein.« Selenskyj betonte die starken historischen, gesellschaftlichen und persönlichen Verbindungen zwischen ukrainischer und russischer Bevölkerung und die gemeinsame sowjetische Geschichte. »Wie kann ich ein Nazi sein? Erklär’ das meinem Großvater, der den ganzen Krieg als Infanterist der sowjetischen Armee mitmachte und als Oberst in einer unabhängigen Ukraine starb«, sagte er. Andere seiner Vorfahren starben im Holocaust, wie sein Ministerpräsident Schmyhal ist Selenskyj jüdischer Herkunft, wenn auch, wie viele Juden in ehemals sowjetischen Ländern, nicht religiös eingestellt. »Viele von euch ­haben Familie in der Ukraine. Ihr kennt unseren Charakter«, appellierte er an die russische Bevölkerung.

Auch russische Regierungskritiker erinnerten in den vergangenen Tagen an die gemeinsame sowjetische Geschichte. Die russische Zeitung Nowaja Gaseta veröffentlichte am Freitag vergangener Woche eine Ausgabe auf Russisch und Ukrainisch mit der Schlagzeile »Komm und sieh«, dem Titel eines der bekanntesten sowjetischen Antikriegsfilme über den Partisanenkampf in Belarus.

Wie fast alle Ukrainer spricht Selenskyj fließend Russisch, es ist seine Muttersprache. Doch als Repräsentant des Staats soll er einem kurz vor seinem Amtsantritt 2019 erlassenen Gesetz zufolge Ukrainisch sprechen. Der damalige Wahlverlierer Präsident Petro Poroschenko, der im Wahlkampf nationalistische Positionen vertrat, unterzeichnete das Gesetz als eine seiner letzten Amtshandlungen. Es ist ein Beispiel dafür, wie die Sprachenfrage in der ukrainischen Politik oft instrumentalisiert wurde, auch schon vor 2014. Doch im Alltag der an Bi- oder Multilingualität gewöhnten Bürger blieb das oft erstaunlich wirkungslos. Auch Selenskyj sprach privat weiter Russisch oder wechselte zwischen den Sprachen, wie in weiten Teilen des Landes üblich.

Selenskyj gewann die Präsidentschaftswahl mit 73 Prozent der Stimmen. Einem Klischee zufolge war die Ukraine seit der Unabhängigkeit politisch gespalten, aber Selenskyj zeigte, dass man als politischer Außenseiter mit klaren populären Positionen – Kampf gegen die Korruption und Oligarchen, Frieden und EU-Kurs – die große Mehrheit der Bevölkerung ansprechen konnte. Anders als sein Konkurrent ­Poroschenko vertrat Selenskyj in der Sprachen- und Geschichtspolitik moderate und versöhnliche Positionen und versprach, alles für einen Friedensschluss zu tun. Vor allem die nationalistische Opposition warnte auf Demon­strationen vor Selenskyjs möglichem »Verrat« ukrainischer Interessen in den Friedensverhandlungen, die jedoch bald scheiterten.

Selenskyj versucht derzeit, den Durchhaltewillen der ukrainischen Bevölkerung zu stärken. Sein ziviles Auftreten, das in deutlichem Kontrast zu Wladimir Putins martialischem Gerede steht, und seine Appelle zum Schutz der Demokratie machen ihn auch im Ausland beliebt. Sich auf den sich unbeugsam gebenden Präsidenten zu konzentrieren, der offen darüber spricht, dass Russland seine Ermordung plane, verleitet Beobachter im Ausland vielleicht jedoch auch dazu, zu verdrängen, was für einer großen Gefahr die ukrainische Bevölkerung ausgesetzt ist und wie viele Menschen in den kommenden Wochen und Monaten sterben könnten. Die EU rechnet derzeit mit über sieben Millionen Flüchtlingen, allen Männern zwischen 18 und 60 Jahren, die zum Militärdienst eingezogen werden können, hat die ukrainische Regierung die Ausreise verboten.