Die Serie »Dopesick« zeigt die Anfänge der Opioidkrise in den USA

Doppelte Dosis

Die Serie »Dopesick« behandelt die US-amerikanische Opioidkrise und zeigt drastisch, wie ein Pharmaunternehmen ganze Landstriche von seinen Medikamenten abhängig machte. Übertrieben ist das keineswegs.

Die ersten zwölf Monate der Covid-19-Pandemie in den USA bildeten auch den – wohl nur vorläufigen – Höhepunkt der Opioidkrise. Über 100 000 Menschen starben Angaben der US-Behörde Centers for Disease Control and Prevention (CDC) zufolge in den zwölf Monaten bis April 2021 an einer Drogenüberdosis. Mehr als drei Viertel der Todesfälle gingen auf Opioide zurück. Nie zuvor gab es in den USA innerhalb eines Jahres so viele Drogentote. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum stieg die Fallzahl um 28,5 Prozent.

Die meisten derjenigen, die an ­einer Opioidüberdosis starben, waren zunächst von ärztlich verschriebenen Schmerzmitteln abhängig geworden. Die achtteilige Miniserie »Dopesick« erzählt mit Rückgriff auf wahre Begebenheiten, wie es dazu kommen konnte. Dabei konzentriert sie sich auf das Schmerzmittel mit dem Namen Oxycontin, das das Unternehmen Purdue Pharma 1996 auf den Markt brachte und dessen Wirkstoff das Opioid Oxycodon ist.

Auch wenn die Serienhandlung um Dr. Finnix und seine Patientin Betsy fiktional ist, liegen ihr reale Fakten zugrunde, die vielfach belegt sind.

Die erste Szene von »Dopesick« spielt zehn Jahre zuvor, im Jahr 1986: Die Familie Sackler, Eigentümer von Purdue Pharma, hat ein Problem. Das Patent ihres Medikaments MS Contin, eines starken opioidhaltigen Schmerzmittels, das vorwiegend Krebspatienten verschrieben wird und 25 Prozent des Jahresum­satzes von Purdue Pharma einbringt, läuft aus. Die Lösung: Man will ein auf demselben Wirkstoff basierendes Medikament entwickeln, das nicht nur gegen starke Schmerzen, sondern auch gegen leichte, mäßige und chronische Schmerzen eingesetzt werden soll. So soll die Zielgruppe erweitert und das – wohl kaum gefährdete – Auskommen der Familie gesichert werden. Das Motto der Unternehmerfamilie lautet: »Man jagt dem Markt nicht hinterher, sondern kreiert ihn.« Das tat sie dann auch – und kreierte gleichzeitig eine Epidemie, die von 1999 bis 2019 über eine halbe Million US-Amerikaner das Leben kostete.

Eigentlich hätte kaum ein Arzt seinen Patienten ein opioidhaltiges Schmerzmittel gegen leichte, mäßige und chronische Schmerzen verschrieben, denn das Suchtpotential von Opioiden war hinlänglich bekannt. Folglich ist der Landarzt Dr. Samuel Finnix, gespielt von Michael Keaton, in »Dopesick« mehr als skeptisch, als ihm der Pharmavertreter Billy Cutler (Will Poulter) Oxycontin vorstellt. Das Verkaufsargument von Cutler und seinen Kollegen, das ihnen bei Trainingsveranstaltungen zuvor an die Hand gegeben wurde, ist simpel: Aufgrund einer »verzögerten Absorption« des Medikaments würden »weniger als ein Prozent« der Konsumenten abhängig. Dies bestätige ein Label, das die Zulassungsbehörde U.S. Food and Drug Administration (FDA) speziell für dieses Medikament geschaffen hatte. Dessen Wortlaut: »Delayed absorption as provided by Oxycontin-tablets, is believed (sic!) to reduce the abuse liability of a drug.« (Es wird angenommen, dass die verzögerte Absorption, wie sie Oxycontin-Tabletten bieten, die Missbrauchseignung eines Arzneimittels verringert.) Doch diese Annahme ist selbstverständlich falsch. Nur eine Fußnote im großen Skandal um Oxycontin ist, dass der FDA-Beamte Curtis Wright, der dem ­Medikament dieses Label zugestanden hatte, kurze Zeit später eine ­Anstellung bei Purdue Pharma erhielt – mit einem Jahresgehalt von etwa 400 000 US-Dollar.

Dr. Finnix lässt sich von dem FDA-Label und weiteren Werbemaßnahmen überzeugen, wie etwa Vorträgen von vermeintlichen Schmerzspezialisten, die auf der Gehaltsliste von Purdue Pharma stehen. Er beginnt, seinen Patienten in einem kleinen Minenarbeiterstädtchen in Virginia Oxycontin zu verschreiben. Und schnell erfüllt sich das Versprechen des Pharmavertreters Cutler: »Vertrauen Sie mir, das Leben der Bergleute wird sich mit Oxycontin schlagartig verändern.« Nur verändert es sich nicht zum Besseren.

Eine von Finnix’ Patientinnen ist die junge Minenarbeiterin Betsy Mallum, gespielt von Kaitlyn Dever. Nachdem sie sich bei einem Arbeitsunfall den Rücken verletzt hat, erhält sie Oxycontin. Zunächst hilft das Medikament, doch schon nach kurzer Zeit hält die schmerzbetäubende Wirkung nicht mehr die versprochenen zwölf Stunden an. So wie Mallum geht es auch vielen anderen Patienten. Es ist ein für Opioide typischer Gewöhnungseffekt – und genau der Grund, aus dem sie nicht gegen chronische Schmerzen verschrieben werden sollten.

Weil immer mehr Ärzte und Patienten von diesem Problem berichten, reagieren der Pharmakonzern und die Familie Sackler. Statt den Fehler einzugestehen, erfinden sie den sogenannten Durchbruchschmerz, der, wie könnte es anders sein, mit einer Verdoppelung der Oxycontin-Dosis behandelt werden müsse. Und wer auch bei der doppelten Dosis »Durchbruchschmerzen« bekommt, muss die Dosis eben erneut verdoppeln. Zur Markteinführung von Oxycontin gab es nur Tabletten mit zehn Milligramm Wirkstoff, im Zuge der Kampagne »Doppelte Dosis« führte man irgendwann sogar Tabletten mit 160 Milligramm Wirkstoff ein. Eine weitere Verkaufskampagne zielte auf eine »individuelle Medikation« von Patienten ab, also darauf, sie ­direkt gehaltvollere Tabletten einnehmen zu lassen.

Auch wenn die Serienhandlung um Dr. Finnix und seine Patientin Betsy fiktional ist, liegen ihr reale Fakten zugrunde, die vielfach belegt sind. Und neben den fiktiven Figuren kommen in der Serie auch Charaktere mit realem Vorbild vor. Allen voran die Familie Sackler, angeführt von Richard Sackler (Michael Stuhlbarg), der die treibende Kraft hinter der Einführung sowie der aggressiven Vermarktung von Oxycontin war. Er sorgte dafür, dass Purdue Pharma etwa 40 Millionen US-Dollar in Werbemaßnahmen für das Medikament investierte und rief persönlich seine Pharmavertreter an, um ihnen Tipps zu geben und sie zu mehr Verkäufen zu animieren. Er schien, so stellt es zumindest »Dopesick« dar, wirklich daran zu glauben, dass sein Medikament die Welt von Schmerzen befreien könnte.

Ein weiterer Handlungsstrang der Serie folgt den ebenfalls auf realen Menschen basierenden Staatsanwälten Rick Mountcastle (Peter Sarsgaard) und Randy Ramseyer (John Hoogenakker) sowie einer Agentin der Drug Enforcement Adminis­tration (DEA), Bridget Meyer (Rosario Dawson). Die drei versuchen, Purdue Pharma und der Familie Sackler nachzuweisen, dass sie wissentlich gelogen haben, um die Zulassung des Medikaments zu erwirken. Die Ermittlungsbehörden wurden dadurch alarmiert, dass in Verbindung mit dem Verkaufsbeginn von Oxycontin eine erhebliche Zunahme von Straf­taten, Prostitution und Kindeswohlgefährdungen verzeichnet wurde. Und zwar gerade in den ländlichen Regionen von Virginia, Kentucky und Maine, in denen Oxycontin besonders aggressiv vermarktet wurde: Gebiete der weißen Arbeiter- und Unterschicht. Mountcastle und Ramseyer berichten ihrem Vorgesetzten, dass nahezu jeder ihrer Fälle irgendwie mit Oxycontin in Verbindung stehe.

»Dopesick« springt immer wieder zwischen den verschiedenen Handlungssträngen und dabei auch zeitlich vom Ende der neunziger Jahre bis in die Mitte der nuller Jahre hin und her. Bisweilen ist es nicht einfach, den Überblick zu behalten, allerdings stört das nicht besonders. Wer sich noch nicht mit der Opioidkrise in den USA beschäftigt hat, dürfte häufiger den Eindruck bekommen, dass die Serie in ihrer Darstellung maßlos übertreibt. Doch dem ist nicht so. Vorbild für die Serie war das gleichnamige, keineswegs fiktionale Buch der Journalistin Beth Macy, die auch an den Drehbüchern zweier Folgen mitgearbeitet hat.

Wie lange die Opioidkrise noch andauern wird, ist ungewiss. Die Sacklers, die mit Oxycontin Millionen Menschen in die Abhängigkeit getrieben haben, weisen bis heute jede persönliche Verantwortung zurück. 2019 meldete Purdue Pharma wegen zahlreicher Klagen Insolvenz an. Im September des vergangenen Jahres stimmten die Sacklers einem Vergleich zu, dem zufolge sie 4,5 Milliarden US-Dollar in die insolvente Firma hätten stecken sollen und im Gegenzug durch eine sogenannte non-consensual third-party release von jeder weiteren privaten Haftung entbunden worden wären. Doch im Dezember kippte eine US-Bundesrichterin den Vergleich, weil er Betroffenen den Rechtsschutz ver­weigere.

Danny Strong, der Produzent von »Dopesick«, sagte vor dem gekippten Vergleich der New York Times, seine Serie sei »die Gerichtsverhandlung, die hätte stattfinden sollen«. Doch viele der Betroffenen können ihren Rechtsschutz ohnehin nicht mehr wahrnehmen. In der Serie antwortet Dr. Finnix auf die Frage eines Staatsanwalts, ob weniger als ein Prozent seiner Patienten von Oxycontin ­abhängig geworden sei, wie Purdue Pharma propagiert hatte: »Ich kann nicht fassen, wie viele von ihnen jetzt tot sind.«

»Dopesick« kann bei Disney Plus gestreamt werden.