Gegen den Stich
Lange hat es gedauert, aber Ende der vorigen Woche haben Bundestag und Bundesrat eine Covid-19-Impfpflicht unter anderem für in Kliniken und Heimen Beschäftigte beschlossen. Sie soll ab Mitte März 2022 gelten. Wer bis dahin keinen Nachweis erbringt, geimpft oder genesen zu sein, oder aber dafür, dass eine Impfung aus medizinischen Gründen nicht möglich ist, dem kann vom Gesundheitsamt der Zutritt zur Arbeitsstätte untersagt werden, wenn in dieser eine Nachweispflicht gilt. Für eine Aufnahme einer Beschäftigung in den betroffenen Einrichtungen muss ebenfalls ein entsprechender Nachweis erbracht werden. Eine vergleichbare Regelung ist die seit März 2020 – unter anderem für Beschäftigte in Krankenhäusern, Kitas und ähnlichen Einrichtungen – geltende Masernimpfpflicht.
In Reaktion auf die Covid-19-Impfpflicht verwiesen Kritikerinnen auf einen möglichen weiteren Exodus aus den Pflegeberufen. Auf Twitter schrieb beispielsweise Sahra Wagenknecht (»Die Linke«): »Viele Pflegerinnen halten Impfpflicht für Personal in Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen aus guten Gründen für fatal, viele fühlen sich dadurch gegängelt und nicht respektiert. Es wird so noch mehr geben, die den Job quittieren.« Als in den vergangenen anderthalb Jahren reihenweise Pflegekräfte kündigten, weil rücksichtslose Kolleginnen und Kollegen den Arbeitsschutz untergruben beziehungsweise indifferente Betriebsleitungen nicht für ihn sorgten, blieb ein solcher Aufschrei von Seiten der jetzt Empörten aus. Zudem ist unklar, was die »guten Gründe« sein sollen, von denen Wagenknecht spricht.
Es kann durchaus misstrauisch machen, dass die Aufmerksamkeit für die Belange des Pflegepersonals plötzlich groß ist, während sich vor der Pandemie kaum jemand um dessen geistige und körperliche Gesundheit geschert hat, obwohl die Belastung schon damals beträchtlich war. Obendrein ist das Gesundheitsbewusstsein im Pflegesektor unterdurchschnittlich ausgeprägt: Wer sich schont und auf sein Wohlergehen achtet, arbeitet eher nicht in diesem Beruf. Auch ist die medizinische Kompetenz insbesondere in Alten- und Behinderteneinrichtungen bei weitem nicht so hoch, wie die Öffentlichkeit zu vermuten scheint; durch die medialen Auftritte insbesondere von gut ausgebildeten Intensivpflegekräften mag da ein falsches Bild entstanden sein.
Dass einige der Pflegekräfte sich auf den Standpunkt zurückziehen, die Impfung sei eine persönliche Entscheidung und gehe niemanden etwas an, ist bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar. Es bleibt trotzdem ein falscher Standpunkt. Denn während aus Sicht eines Teils der Pflegekräfte die Impfpflicht ambivalent erscheint, ist sie es aus Sicht der Gepflegten nicht. Diese haben Anspruch auf den größtmöglichen Schutz in einer Situation der Hilflosigkeit. Sie sind oft bedroht von schwereren Verläufen einer Covid-19-Erkrankung, und Heimbewohner leben auch in einem keimbelasteten Umfeld. Sie sind darauf angewiesen, dass die dort Beschäftigten ihr Möglichstes tun, um sie zu schützen. Die Impfung ist dafür eine notwendige Voraussetzung.
Sollten sich viele Pflege- und Servicekräfte dennoch einer Impfung verweigern, wäre es freilich denkbar, dass die Grundversorgung stellenweise zusammenbricht. Ein Blick in andere Länder lässt aber vermuten, dass es sich dabei um ein Schreckgespenst handelt. In Frankreich betraf eine im September eingeführte Impfpflicht 2,7 Millionen Angestellte; nach Angaben des Gesundheitsministeriums von Mitte Oktober weigerten sich 15 000 davon und wurden freigestellt. Auch wenn man eine Dunkelziffer unterstellt, bleiben die Zahlen im Promillebereich. Fraglich ist, was die Pflege verliert, wenn ebenjene den Beruf aufgeben, für die das Wohl der Klientinnen, Patienten und Bewohnerinnen offenbar eine eher untergeordnete Rolle spielt.
Es bleibt die Hoffnung, dass die Pflege in ihren Protesten nicht weiter den apolitischen Weg der »eigenen Entscheidungen« geht und gegen eine Impfpflicht opponiert, sondern der Frust und die Überforderung Ausgangspunkt werden, um für bessere Bedingungen zu streiten.