Die Verteidigungsstrategie im Bataclan-Prozess ist gescheitert

Die geplatzte Verteidigungsstrategie

Im Verfahren wegen der Attentate vom 13. November 2015 in Paris trat am 39. Prozesstag Osama Krayem auf. Er gilt der Anklage als einer der Hauptorganisatoren der Massaker.

Vor einigen Tagen wollte Osama Krayem sich noch als eine Art Intellektueller inszenieren. Am 39. Prozesstag im Ver­fahren wegen der Attentate vom ­13. ­November 2015, unter anderem im Pariser Konzertsaal Bataclan, bei denen insgesamt 131 Menschen getötet wurden, ließ der Angeklagte Osama Krayem – 1992 im schwedischen Malmö geboren – durchblicken, in Haft sei er zum Bücherwurm geworden. Und es fehle ihm »an sozialen Interaktionen«, seit er im Gefängnis sitze. Auf Nach­frage des vorsitzenden Richters, Jean-Louis Périès, um welche Lektüre es sich denn handele, kam zur Antwort: »Ich kann mich nicht erinnern. Aber ich habe viele Bücher.« Das war am 4. November. Die Anklage wirft Krayem vor, einer der Hauptorganisatoren der Attentate vom 13. November zu sein. Zudem zählt er mutmaßlich zu den Terroristen, die bei den Bombenattentaten am 22. März 2016 in Brüssel 32 Menschen töteten.

Am Vortag hatte ein DGSI-Experte im Prozess ausgesagt, IS-Kämpfer seien in Europa bereits deutlich vor September 2014 zum Einsatz gekommen.

Vorige Woche war es mit Krayems Versuch, sich feinsinnig zu geben, defi­nitiv vorbei. Um ein realistisches Bild vom Angeklagten und seinem Hintergrund zu vermitteln, ließ das Gerichtspräsidium am Donnerstagnachmittag im Saal einen vom »Islamischen Staat« (IS) aufgenommenen Videofilm zeigen, den der französische Inlandsgeheimdienst DGSI im Februar 2015 im Internet aufgespürt hatte.

Einige Menschen im Zuschauersaal und in den Nebensälen, in denen die Verhandlung auf Leinwand übertragen wird, erheben sich und verlassen den Raum, als Richter Périès ankündigt, was genau zu sehen sein wird, und Personen mit schwachen Nerven die Gelegenheit zum Hinausgehen gibt. Über die Leinwand flimmert zunächst die arabische Schriftzeile: »Der taghout (etwa: Götze, Tyrann ; Anm. d. Red.) von Jordanien, Abdullah II.«. Man hört den ­jordanischen König sprechen. Dann werden jor­danische Luftwaffenbasen und ­Militärflugzeuge im Einsatz gezeigt. Nach 15 Minuten ­Video kommt ein Schnitt. Daraufhin sieht man einen als jordanischen Piloten vorgestellten Mann mit blauem Auge und in orangefarbener Kluft, die die Propagandisten des IS der Häftlingsuniform in ­Guantánamo nachempfunden hatten.
Danach wird er in einem Käfig mit gesenktem Haupt gezeigt, er wird mit einer brennbaren Flüssigkeit überschüttet. Ein vermummter IS-Kader legt mit martialischer Geste Feuer an die ein Dutzend Meter lange Zündschur. Der Mann verbrennt bei lebendigem Leib. Man sieht nur Sekunden davon. Die Regie informiert, dass man den mehrere Minuten dauernden Todeskampf des Opfers aus dem IS-Originalvideo vor der Ausstrahlung herausgeschnitten habe. In einer letzten Szene schüttet ein Schaufelbagger Steine und Geröll über den Käfig, rollt darüber und ebnet den Schauplatz ein.

Einer der umstehenden Vermummten, die dem Mord im IS-Gebiet beiwohnten, wurde anhand einer Auffälligkeit an der Augenbraue identifiziert. Es handelt sich um Osama Krayem.

Vor und nach der Ausstrahlung des Videos kommentiert ein Experte vom französischen Inlandsgeheimdienst DGSI, der sich in einem Nebengebäude aufhält und in der Live-Übertragung nur schemenhaft zu erkennen ist; stundenlang beschreibt er trocken die Lebensläufe identifizierter Jihadisten, die zwischen Europa und dem IS-Gebiet in Syrien oder dem Irak unterwegs waren. Die Mehrheit der Attentäter in Paris vom 13. November 2015 waren belgische oder französische Staatsbürger, Krayem ist schwedischer Nationalität. Nicht-EU-Ausländer unter den Attentätern waren an jenem Tag lediglich die beiden Iraker, die sich vor dem Stadion von Saint-Denis in die Luft sprengten und deren Identität nicht definitiv geklärt ist.

In den Tagen zuvor hatte der ehema­lige Staatspräsident François Hollande, der zur Zeit der Attentate im Amt war, im Prozess ausgesagt. Die Verteidigung befragte ihn wiederholt zur Chronologie der Ereignisse zwischen den französischen Luftwaffenoperationen im ­Nahen Osten – im Rahmen der 2014 begründeten internationalen Anti-IS-­Koalition – und den Attentaten.

Hollande antwortete zunächst auf den Hauptangeklagten Salah Abdeslam, der mutmaßlich als einziger Angeklagter persönlich an den Pariser Attentaten teilgenommen hatte. Am 15. September hatte er gesagt, persönlich nichts gegen die Opfer zu haben, aber man habe Frankreich in Replik auf die Bombardierungen, die in Syrien und im Irak zivile Opfern forderten, angegriffen, was Abdeslam als Verteidigungshandlung darstellte.

Hollande sagte, die erste Bombardierung Frankreichs in Syrien habe erst am 27. September 2015 stattgefunden, zu diesem Zeitpunkt seien die Vorbereitungen der Attentate weit gediehen gewesen. Bereits am 22. September 2014 habe der IS-Sprecher Abu Mohammed al-Adnani dazu aufgefordert, die »schmutzigen und bösartigen Franzosen zu bestrafen«.

Die Strafverteidigerinnen, unter ihnen die Abdeslams, Olivia Ronen, hakten nach: Wann habe Frankreich denn seine ersten Lufteinsätze im Irak geflogen? »Ende September«, antwortete Hollande, sonst nicht um genaue Angaben verlegen, ausweichend. Aber fanden die ersten Luftangriffe Frankreichs im Irak nicht am 19. September 2014 statt, also drei Tage vor den Äußerungen al-Adnanis, der damit auf die Bombardierung eines Trainingslagers für IS-Terroristen reagierte, fragte Ronen nach und sagte zugleich, die Attentate nicht rechtfertigen zu wollen.

Hier drohte dennoch eine Legitimations- oder Verteidigungsargumentation etabliert zu werden. Hollande schien um Antwort verlegen, weil die Chronologie, wie er sie vortrug, nicht stimmig war. Am Vortag hatte ein DGSI-Experte allerdings ausgesagt, andere IS-Kämpfer seien in Europa bereits deutlich vor September 2014 zum Einsatz gekommen – Ibrahim Boudina, ein Syrien-Rückkehrer aus Cannes, war im Januar des Jahres in Südfrankreich mit 900 Gramm Sprengstoff aufgegriffen worden. Im Mai 2014 verübte der ebenfalls vom IS aus dem Nahen Osten kommende Mehdi Nemmouche mehrere Morde im Jüdischen Museum in Brüssel und wurde einige Tage später mit einer Kalaschnikow in Marseille aufgegriffen. Beide schienen mit der Führungsebene des IS, darunter dem aus Kuwait stammenden Briten Mohammed Emwazi alias Jihadi John, in Kontakt zu stehen.

Am 15. November fasste die Pariser Abendzeitung Le Monde den Kenntnisstand zusammen und behandelte auf einer ganzen Seite die Fragestellung: »Waren die Attentate vom 13. November eine Erwiderung auf französische Luftangriffe?« Kein Gegenschlag seien sie gewesen, sondern direkter Ausdruck von Ideologie und Methoden des IS, schlussfolgerte sie nach einer präzisen Beweisführung.