Die russische ehemalige Gefängnisinsel Sachalin

Zwischen Russland und Japan

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kolonisierte das Zarenreich die Pazifikinsel Sachalin mit Sträflingen. Mittlerweile sorgt die Förderung von Gas und Erdöl für ein hohes Lohnniveau.
Reportage Von

Im Zeitraffer zieht die dunkle Nacht an der vollbesetzten Boeing vorbei. Der Flug geht von Moskau über Sibirien in den Fernen Osten. So lautet die Bezeichnung für jene in Asien gelegenen weitläufigen Gebiete Russlands, deren Flüsse in den Stillen Ozean münden. Dazu gehört auch die größte russische Pazifikinsel, Sachalin. Dort leben zwar weniger als eine halbe Million Menschen, aber Öl- und Gasvorkommen sorgen dafür, dass die Infrastruktur in der Region, soweit vorhanden, einer umfangreichen Modernisierungskur unterzogen werden soll. Reisende erleben die erste Überraschung direkt bei der Ankunft. Dort erwartet sie immer noch das alte sowjetische Flughafengebäude, während direkt nebenan ein Terminal aus Stahl, Glas und Beton seit 2017 seiner Fertigstellung harrt.

Am Kap Aniwa bauten die Japaner 1939 auf einem nur schwer über das Wasser zugänglichen Felsen einen Leuchtturm, der seinerzeit als ein kleines Wunder der Ingenieurskunst galt.

Schon während der kurzen Fahrt mit dem Bus in die nahegelegene Hauptstadt Juschno-Sachalinsk offenbart sich die geographische Nähe zu Japan: Die meisten Fahrzeuge sind japanischer Bauart, mit dem Lenkrad auf der rechten Seite. Bei den Lebensmitteln dominieren hingegen Läden mit Produkten aus Belarus, die sich gefühlt fast an jeder Ecke finden. Weitaus irritierender ist jedoch das überdimensionierte Ausmaß vieler auch im europäischen Landesteil beheimateter Pflanzen. Sacha­liner Ebereschen mit ihren herbstlich gefärbten Blättern und leuchtend roten Beeren überragen ihre Artgenossen auf dem Festland deutlich; selbst die für ganz Russland typischen Birken weisen durch ihre geschwungene Form ­einen exotischen Anstrich auf.

Häftlinge und Kaiser
Russische und japanische Expeditionen erforschten das Territorium über Jahrhunderte. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts gelang einem russischen Schiff die erste komplette Umrundung ­Sachalins auf dem Wasserweg, womit die Erkenntnis Einzug hielt, dass es sich um eine Insel handelt. Japan und Russland vereinbarten zunächst eine gemeinsame Nutzung, später dann eine Aufteilung der Einflusssphären: Sachalin ging komplett an Russland, die Inselgruppe der Kurilen an Japan.

Der zaristischen Regierung fiel nach halbherzigen Ansiedlungsversuchen von zwei Dutzend Bauernfamilien nichts Besseres ein, als die Erschließung der Insel ab 1869 mit Zuchthaushäftlingen voranzutreiben. Anton Tschechow, Schriftsteller, Dramaturg und Arzt, verbrachte im Jahr 1890 drei Monate auf Sachalin, um deren Lebens- und Arbeitsbedingungen zu erkunden, und kam in seinen später veröffentlichten detaillierten Aufzeichnungen zu einem niederschmetternden Ergebnis: Die Häftlinge arbeiteten wie Sklaven unter übelsten Bedingungen an der Kolonisierung des asiatischen Landstrichs, Körperstrafen waren an der Tagesordnung; hatten sie ihre Strafe verbüßt, wurden sie in der Nähe der Gefängnisse angesiedelt. Nach der russischen Niederlage im Krieg gegen Japan 1905 beanspruchte das asiatische Kaiserreich den südlichen Inselteil, genannt Karafuto, für sich. Aus der Zeit der ­japanischen Vorherrschaft stammt die Schmalspureisenbahn, die Russland nur zögerlich durch ein eigenes Breitspurschienennetz ersetzt. Das Regionalmuseum ist im ehemaligen Verwaltungssitz der japanischen Behörden untergebracht. Nach einer kritischen Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit sucht man dort vergeblich, zumindest aber erhalten dort die teils längst umgesiedelten, verdrängten und im Alltagsleben kaum wahrnehmbaren indigenen Bevölkerungen wie die Ainu, Niwchen, Ultschen oder Nanai einen Raum.

Ein einst von Japan errichteter Pavillon für Kaisertreue

Verfall: ein einst von Japan errichteter Pavillon für Kaisertreue

Bild:
Ute Weinmann

Ansonsten fällt das architektonische Erbe Japans recht bescheiden aus. ­Mancherorts finden sich noch Überreste kleiner tempelartiger Gebäude, die zu Karafuto-Zeiten in jedem Schulhof standen und von der Kombination aus Nationalismus, Bildungsanspruch, ­Militarismus und unbedingtem Gehorsam gegenüber der kaiserlichen Obrigkeit zeugen. Die japanische Regierung ließ nach dem Zweiten Weltkrieg ­sämtliche dieser Pavillons abreißen, im ­sowjetischen Sachalin sorgte die Zeit für ihren allmählichen Zerfall.

Eine Ruine ist auch die derzeit größte Touristenattraktion auf Sachalin. An der Südostspitze der Insel, am Kap Aniwa, bauten die Japaner 1939 auf einem nur schwer über das Wasser zugäng­lichen Felsen einen Leuchtturm, der seinerzeit als ein kleines Wunder der ­Ingenieurskunst galt. Zu Sowjetzeiten wurde er manuell weiterbetrieben, von 1990 bis 2006 dann unbemannt mit einem thermoelektrischen Radioisotopgenerator. Seither steht der Leuchtturm, der sich im Besitz der russischen Pazifikflotte befindet, völlig verwaist und verwittert da. Plünderer ­haben alle Wertgegenstände entwendet.

Leuchtturm zu verkaufen
Frühmorgens geht es in einer zweistündigen Fahrt zur Küste. Dort warten auf die Gruppe regenfeste Mäntel, Gummistiefel und zwei Gummiboote mit Außenmotor. Alle sollen mit ihrer Unterschrift die Einhaltung der Sicherheitsvorschriften bezeugen, allerdings ohne Aufklärung darüber, worin diese eigentlich bestehen. Aber zum Nachdenken bleibt ohnehin keine Zeit. Dmitrij, der Bootsführer, hat es eilig.

Kaum hat das Boot abgelegt, gibt er unvermittelt Vollgas und das Boot brettert in halsbrecherischem Tempo eine ganze Stunde lang über die Wellen am bedrohlich hoch aufragenden, unzugänglichen Küstenstreifen entlang. Am Ziel angekommen, freut sich Dmitrij über die ruhige See und gibt uns 40 Minuten zur abenteuerlichen Erkundung des alles andere als touristisch aufbereiteten Ortes. »Übrigens steht der Leuchtturm zum Verkauf«, sagt er ­grinsend. Auf dem winzigen Eiland stellt sich unweigerlich das Gefühl ein, am Ende der Welt angekommen zu sein. Wenige Tage später wird ein Schlauchboot mit vier Touristen und ihrem Bootsführer umkippen, die sich schwimmend auf die Felsenklippen retten und später vom Grenzschutz aufgesammelt werden.

Der Leuchtturm am Kap Aniwa

1939 noch ein Wunder der Ingenieurskunst: Der Leuchtturm am Kap Aniwa

Bild:
Ute Weinmann

Bei Sonnenschein wirkt das Meer friedlich, aber das Wetter ändert sich auf der Insel stündlich. Eine geplante Tour auf die Kurilen platzt wegen einer Sturmwarnung. Grundsätzlich will sich zwar niemand auf Prognosen festlegen lassen, aber dass der Passagierschiffsverkehr über Tage hinweg ins Stocken ­gerät, ist Usus, mit einem knappen Zeitplan indes nicht zu vereinbaren. Auch die Schiffe, die Passagiere und Güter vom Festland zum Hafen in der Stadt Cholmsk bringen, haben oft genug Verspätung. Daher rührt die schon jahrzehntealte Idee, an der mit nur sieben Kilometer engsten Stelle des Tatarensunds im Norden Sachalins eine Brücke zu bauen. Aus dem Verkehrsministerium gibt es dafür Unterstützung, aber ob sich die für den Bau zu erwartenden horrenden Kosten rechnen, ist fraglich.

Cholmsk an der Westküste muss einmal ein schönes Städtchen gewesen sein, allerdings sind die noch unter Stalin errichteten Gebäude inzwischen völlig heruntergekommen und ein Teil der Kaimauer leuchtet nur im Glanz der überall herumliegenden Scherben von Bier- und Wodkaflaschen. Ein Stück weiter tummeln sich Angler, allesamt Männer. Sie fischen in stoischer Ruhe Stinte, kleine Speisefische, aus dem Meer. Urbaner und in weitaus besserem Zustand wirkt die mit 33 000 Einwohnern nur wenig größere, im Süden gelegene Hafenstadt Korsakow. Von der sich direkt über dem Ufer erhebenden Anhöhe lässt sich fast das gesamte Stadtgebiet überblicken, einschließlich der im Winter eisfreien Bucht.

Lukrativer Treibstoff
Dort oben steht ein Denkmal, das an die 40 000 Koreaner und Koreanerinnen erinnert, die sich im August 1945 im Hafen von Korsakow in der Hoffnung versammelt hatten, nach Korea ausreisen zu können. Die japanische Besatzungsmacht hatte sie zur Zwangsarbeit nach Karafuto verfrachten lassen, aber an ihrer Rückführung zeigte sie nach der Niederlage im Krieg kein Interesse. Gleiches galt für die sowjetischen Behörden. In den nuller Jahren stellte Japan dann Finanzmittel zur Verfügung, die bislang einigen Tausend vor 1945 geborenen Menschen koreanischer Abstammung die Übersiedlung nach Korea ermöglichten. Jüngere Generationen der auf Sachalin Geborenen können indes kein Rückkehrrecht geltend machen.

15 Kilometer östlich von Korsakow steht die erste und bislang einzige Anlage zur Verflüssigung von Erdgas in Russland, sie wurde 2009 in Betrieb genommen. Ihr Weltmarktanteil beläuft sich auf über drei Prozent, im asiatischen Raum, auf den die Produktion in erster Linie zielt, auf knapp fünf Prozent. Der Betreiber Sakhalin Energy gehört mehrheitlich Gazprom, der ­zweitgrößte Anteilseigner ist die Royal Dutch Shell Company. Außerdem dient der Hafen als Drehscheibe für die Ausfuhr von im Norden Sachalins gefördertem Rohöl.

Der russische Präsident Wladimir Putin forderte die Regierung der Oblast Sachalin kürzlich auf, Optionen für die Produktion von Treibstoff zu prüfen. Dem Rohstoffgeschäft ist es geschuldet, dass die Durchschnittslöhne auf Sachalin mit umgerechnet etwa 1 150 Euro pro Monat zu den höchsten Russlands zählen. Doch die Gehälter der Spitzenverdiener der Branche und gutbezahlter staatlicher Verwaltungskader haben wenig gemein mit den Verdienstmöglichkeiten des Großteils der Bevölkerung.

Auf einer Anhöhe steht ein Denkmal, das an die 40 000 Koreaner und Koreanerinnen erinnert, die die japa­nische Besatzungsmacht im Zweiten Weltkrieg zur Zwangsarbeit nach Karafuto hatte verfrachten lassen.

In Juschno-Sachalinsk, dem Verwaltungszentrum und der mit gut 180 000 Einwohnern größten Stadt der Oblast, betreibt Wladislaw seit drei Monaten einen Coffeeshop auf der zentralen Le­nin­straße, was ihm sichtlich großen Spaß macht. Aber sobald er auf die politischen Zustände in Russland zu sprechen kommt, verfliegt seine gute Laune. »Die Einkommensunterschiede werden immer größer, das läuft irgendwann auf eine Revolution heraus«, echauffiert er sich. Der studierte Flugzeugingenieur hat zehn Jahre in Sankt Petersburg gelebt, bevor er vor wenigen Jahren mit Anfang dreißig in seine Heimatregion ­zurückgekehrt ist. Seine Eltern leben in der Nähe des Zehntausendseelenortes Nogliki im Norden von Sachalin, wohin seit zwei Jahren immerhin eine Bahnverbindung besteht. Selbst wenn er wollte, könnte er als Ingenieur auf der Insel keine Arbeit finden. Früher seien Stellen offen ausgeschrieben worden, sagt er, heutzutage hingegen brauche es mehr als eine gute Ausbildung.

Ein Angler in Cholmsk

Fischen in stoischer Ruhe. Ein Angler in Cholmsk

Bild:
Ute Weinmann

In einem usbekischen Café sitzen Wanja und Michail, die gerade ihre ersten Bierflaschen geleert haben. Wanja ist auf Sachalin geboren und 45 Jahre alt, sieht aber mindestens zehn Jahre älter aus. Beinahe entschuldigend erzählt er, dass er in den neunziger Jahren im kriminellen Milieu großgeworden sei und keine Familie habe. »Aber seit acht Jahren arbeite ich als selbständiger Sanitärtechniker«, sagt er mit Stolz in seiner sanften Stimme. Außerdem verdiene er mit Fischfang Geld dazu – selbstverständlich schwarz.

Michail hingegen stammt aus Jekaterinburg. Sein Einkommen bestreitet er mit der Instandhaltung von Bankautomaten. Auf die Frage, wie es ihn in den Fernen Osten verschlagen habe, zieht er blitzartig seinen Pullover aus und zeigt auf seinen völlig vernarbten Bauch. Im zweiten Tschetschenien-Krieg hätte er fast sein Leben verloren. Zur ­Beendigung seines Militärdienstes wurde er nach ­Sachalin abkommandiert, wo er heiratete, sich dann scheiden ließ und eine Tochter materiell versorgt. Nur traue er sich nicht mehr, ihr unter die Augen zu treten, weil sie ihn nicht in seinem ­Zustand sehen soll. »Ich verdiene gut, aber leben will ich nicht«, stammelt er. Vielleicht hat er schon mehr als zwei oder drei Biere intus. Nach Jekaterinburg ziehe es ihn jedenfalls nicht mehr, da seine Eltern und alle Geschwister mittlerweile verstorben seien.

Auf den Straßen ist am Abend wenig los. Karaoke-Bars locken bis spät in die Nacht ihr Publikum mit greller Reklame, während im Kino Komsomolez in der Spätvorstellung der neueste James-Bond-Film läuft, dessen finale Szenen im Nirgendwo zwischen Russland und Japan spielen, wenngleich auf den ­Färöer-Inseln gedreht. Die stämmige Kinomitarbeiterin im Rentenalter ­findet weder den Plot mitreißend, noch kann sie dem imaginierten Lokalkolorit etwas abgewinnen. Überhaupt ist der Westen mit all seinen kulturellen Codes von Sachalin aus betrachtet ganz schön weit weg.