Der kürzlich verstorbene ungarische Ökonomen János Kornai

Weiches Budget, harter Big Bang

Am 18. Oktober ist der ungarische Ökonom János Kornai im Alter von 93 Jahren in Budapest verstorben. Er war der einflussreichste Kritiker des Wirtschaftssystems des Realsozialismus und auch von dessen Reformversuchen.

János Kornais Leben war so wechselhaft wie das 20. Jahrhundert selbst. Der Ökonom entwickelte sich von einem überzeugten Marxisten zu einem Befürworter von Reformen der Planwirtschaft und glaubte schließlich, eine »Schocktherapie« sei notwendig, um in postsozialistischen Staaten den Kapi­talismus durchzusetzen.

Kornai wurde 1928 in Budapest in eine wohlhabende jüdische Familie geboren. Während der deutschen Besetzung Ungarns wurde seine Familie verfolgt und sein Vater 1944 in Auschwitz ermordet. Diese Erfahrungen machten ihn empfänglich für sozialistisches ­Gedankengut. Nach der Lektüre von Karl Marx’ »Das Kapital« beschloss er, Ökonom zu werden. 1961 promovierte er an der Karl-Marx-Universität für Wirtschaftswissenschaften in Budapest.

Der Ökonom Kornai kam immer mehr zu der Ansicht, dass die Probleme der staatssozialistischen Ökonomie systematischer Natur waren und auch ein »Markt­sozia­li­s­mus­« nicht funktionieren könne.

Die Niederschlagung des Aufstands von 1956 und die folgenden Repressalien hatten Kornais Zweifel an dem von der Sowjetunion übernommenen System der Planwirtschaft verstärkt. In ­diesem System wurden alle wichtigen Preise, Pläne­, ­Investitionen und Löhne zentral festgelegt. Betriebe ­hatten keine Autonomie und mussten den Vorgaben von oben folgen.

1957 veröffentlichte Kornai das Buch »Überzentralisierung in der ökonomischen Administration«, in dem er die zentralistische Planung kritisiert, ohne das Primat des Staatseigentums und der Führungsrolle der Partei grundsätzlich in Frage zu stellen. Er bezeichnete seine damalige Haltung später als die eines »naiven Reformers«. Er verlor ­deswegen seine Arbeitsstelle an der Universität.

Kornai war damals keinesfalls allein mit seinen Ansichten. Während der ersten Reformwelle (1953–1957) im sowjetischen Lager hatte zum Beispiel die polnische Regierung 1956 zentrale Planvorgaben reduziert und Betrieben eine gewisse Autonomie zugestanden, um mehr Effizienz und Produktivität zu erreichen.

Anfang der sechziger Jahre wurde das sozialistische Lager von einer zweiten Reformwelle erfasst. Auf die so­genannte Liberman-Debatte (benannt nach dem sowjetischen Ökonomen Jewsej Liberman) folgten in der Sowjetunion Reformen, die in Betrieben ­Profitgenerierung zum Hauptkriterium machten und Wettbewerb entfachen sollten. Preise sollten nicht mehr in erster Linie politisch festgesetzt werden, sondern sich am Wert der Produkte orientieren, um Betriebe zu einem effizienteren Umgang mit Ressourcen zu zwingen. Besonders weit bei den Preisreformen ging Ungarn mit dem »­Neuen Ökonomischen Mechanismus« (1968–1973).

In diesem politischen Klima kam Schwung in Kornais akademische Karriere. 1967 wurde er zum Professor am Institut für Ökonomie der Ungarischen Akademie der Wissenschaften berufen. Einflussreich wurden seine Schriften in Ost und West, weil er als Insider des Systems forschte und die ungarischen Behörden es ihm ab Mitte der sechziger Jahre erlaubten, Gastprofessuren an renommierten westlichen Universitäten anzunehmen. Ungarische Wissenschaftler besaßen damals allgemein weitaus größere Freiräume als Wissenschaftler aus den meisten anderen Staaten des Warschauer Pakts.

Die zweite Reformwelle enttäuschte Kornai und viele andere. In fast allen Ländern des sowjetischen Lagers wurden die wirtschaftlichen Reformen nach dem Einmarsch der Sowjetunion in der Tschechoslowakei 1968 beendet. Ungarn und das blockfreie Jugoslawien besaßen noch einige Freiräume, Markt­elemente in das System einzubauen und zentrale Vorgaben zu reduzieren.

In seiner Forschung kam Kornai immer mehr zu der Ansicht, dass die Probleme der staatssozialistischen Öko­nomie systematischer Natur waren und auch ein »Marktsozialismus« nicht funktionieren könne. Sein 1980 veröffentlichtes Buch »Ökonomie des Mangels« wurde unter anderem in Ungarn, Russland und China, das kurz zuvor die Politik der »Reform und Öffnung« begonnen hatte, zum Bestseller.

Als ein zentrales Problem der staatssozialistischen Ökonomie sah Kornai das »weiche Budget« der Betriebe. Betriebsleitung und Belegschaft hätten bei geringer Leistung keine ernsthaften Konsequenzen zu befürchten, da sie wussten, dass der Betrieb im Zweifelsfall vom Staat gerettet werde. Der ­chronische Mangel an Kapital, Arbeitskräften und Ersatzteilen führe dazu, dass die Betriebe Ressourcen horteten und dies vor den Planungsbehörden verheimlichten. Mangel bei Konsumgütern zwinge auch die Bevölkerung, diese Güter zu horten.

Diese Mängel hatten Ökonomen wie Liberman bereits in den sechziger Jahren identifiziert. Kornai argumentierte allerdings, dass die Schaffung eines ­hybriden Systems aus Plan- und Marktwirtschaft sowie eine Dezentralisierung der Ökonomie die Probleme nicht lösen könnten. In seinem 1992 veröffentlichten Lehrbuch »Das sozialistische System: Die Politische Ökonomie des Kommunismus« legte er seine Kritik am sogenannten Marktsozialismus in Ungarn und Jugoslawien ausführlich dar. Die Lockerung der Vorgaben habe nicht zu echter ökonomischer Disziplin geführt, da die Betriebe weiterhin keinen Konkurs fürchten mussten und mit einem »weichen Budget« wirtschafteten. Da Massenentlassungen nicht möglich waren, habe das Management versucht, mit paternalistischen Maßnahmen die Belegschaft zufriedenzustellen.

Mit anderen Worten: Die Arbeiterklasse hatte noch immer zu viel Macht und die regierenden kommunistischen Parteien schreckten davor zurück, die Arbeitskraft vollständig zu kommodifizieren. Manager und Kader würden die größere Autonomie der Betriebe nutzen, um sich durch Korruption, Unterschlagung und illegale Geschäfte in der Schattenwirtschaft zu bereichern, so Kornai.

In Ungarn und Jugoslawien führten die Preisreformen außerdem zu chronisch hoher Inflation. Um ihre Sozialpolitik zu finanzieren, hatten sich beide Regierungen im westlichen Ausland hoch verschuldet. Nur eine vollständige Privatisierung der Betriebe und Freigabe aller Preise könne dem Markt und der unternehmerischen Rationalität zum Durchbruch verhelfen, war Kornais zentrale Schlussfolgerung. Er befürchtete allerdings, dass dieses Programm nach der Einführung freier Wahlen schwierig durchzusetzen wäre, da Teile der Bevölkerung möglicherweise nicht bereit wären, die schmerzhaften sozialen Folgen dieses Übergangs mitzutragen.

Die Ökonomin Isabella M. Weber hat in ihrem kürzlich veröffentlichten Buch »How China Escaped Shock Therapy« gezeigt, dass Kornai in den Auseinandersetzungen über die chinesischen Reformen der achtziger Jahre eine wichtige Rolle spielte. Die chinesische Regierung lud Kornai nach China ein. Parteikader und Ökonomen waren damals in zwei Lager gespalten: Die einen wollten das duale System von Plan und Markt über einen längeren Zeitraum beibehalten und nur graduelle Reformen vornehmen. Das andere Lager glaubte, dass nur ein »Big Bang«, die umfassende Freigabe der Preise und die Einführung von Marktmechanismen, das System reformieren ­könne.

Die Anhänger eines »Big Bang« ­beriefen sich unter anderem auf Kornai als wissenschaftliche Autorität. 1988/1989 setzten sich jedoch die Anhänger der graduellen Reformen durch. Weber zufolge konnte dadurch in China eine neoliberale »Schocktherapie« verhindert werden. Das Land durchlitt in den neunziger Jahren anders als Russland keinen wirtschaftlichen und sozialen Niedergang. Die graduellen Reformen und die Schaffung eines hybriden Systems aus Markt- und Planwirtschaft sowie öffentlichem und privatem Sektor hätten die Grundlage für den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas gelegt.

Auch Kornai musste schließlich anerkennen, dass China und Vietnam nach graduellen ökonomischen Reformen in den neunziger und nuller Jahren ein rasantes Wirtschaftswachstum zu verzeichnen hatten. Er argumentierte allerdings, dass dies mit »Markt­sozialismus« nichts zu tun habe, ­sondern beide Länder dem britischen »Manchesterkapitalismus« des 19. Jahrhunderts ähnelten. Das solle man ­keinesfalls als böse Kritik auffassen, da er ohnehin kein Anhänger eines Wohlfahrtstaats im Sinne traditioneller Sozialdemokratie sei.

Die Einordnung der chinesischen Ökonomie als »Manchesterkapitalismus« ist besonders aus heutiger Sicht fraglich, denn die Regierung kontrolliert weiterhin zentrale Sektoren wie Finanzen und Rohstoffe. Zudem wurden Sozialstaat und öffentliche Gesundheitsversorgung nach den sogenannten wilden Neunzigern wieder ausgebaut.

Eine kritische Auseinandersetzung mit Kornais Werk bleibt notwendig, um zu verstehen, warum die sowjetische Planwirtschaft als Alternative zum Kapitalismus gescheitert ist.