Tiktok-Tics

»Hör auf damit! Es ist kein Tourette, sondern eine neue Form einer soziogenen Massenkrankheit«, betitelte die Fachzeitschrift Brain etwas hilflos-autoritär einen im August veröffentlichten Aufsatz der Neurologin und Psychiaterin Kirsten Müller-Vahl und dreier Kolleginnen. Die Autorinnen befassen sich mit einem sozialen Problem: Sie schreiben, in den vergangenen zwei Jahren sei eine bemerkenswert hohe Zahl junger Patienten und Patientinnen an ihre Klinik verwiesen worden, deren Symptome denen des erfolgreichen Youtubers Jan Zimmermann ähneln. Dieser betreibt den Kanal »Gewitter im Kopf«, der mit über zwei Millionen Abonnenten und Abonnentinnen zu den 100 erfolgreichsten Deutschlands gehört.

In den Videos stellen Zimmermann und sein Freund Tim Lehmann ihren Alltag dar. Sie kochen und backen, unternehmen Ausflüge oder laden Gäste ein. Das Besondere ist, dass Zimmermann vom Tourette-Syndrom betroffen ist, also plötzliche, unkontrollierte Bewegungen ausführt oder unwillkürlich Geräusche macht. Häufig beleidigt Zimmermann auch die Menschen um sich herum oder schubst sie.

Wer die Tourette-Symptome Jan Zimmermanns oder anderer Youtube-Stars übernimmt, leidet vermutlich unter Konflikten, die über den spezifischen Symptomdruck hinausgehen.

Das entspricht nicht ganz dem gewöhnlichen klinischen Erscheinungsbild des Syndroms, dessen Tics zumeist sehr repetitiv und kontextunabhängig sind. Bei Zimmermann drängt sich aufgrund der Komplexität der Sätze der Verdacht auf, dass sein oft grenzüberschreitendes Verhalten nicht immer durch Tics ausgelöst wird. Beispielsweise reagiert er in seiner »Tourette-Stimmlage«, die er Gisela nennt, auf einen anderen Youtuber mit dem Satz: »Ich bin heute noch sehr zivilisiert, ich bin von der rechten Rheinseite, aber das heißt nicht, dass ich ein Neandertaler bin, die haben keine Steine gefressen, die haben Bäume gefressen.«