Die Parteien verdrängen die Probleme in der Klimapolitik

Deutschland am Esstisch

Im Wahlkampf wird der Streit über eine vermeintliche grüne Verbotskultur kulinarisch inszeniert. Beim Klimaschutz muss man aber über den Tellerrand schauen.

Niemand kann behaupten, dass es im Wahlkampf keine dramatischen Höhepunkte gebe. »An dieser Stelle muss ich Sie unterbrechen, denn jetzt sehen wir, wie hier Markus Söder und Armin Laschet ihre Nürnberger Bratwürste bekommen«, unterbrach die Moderatorin Angela Knäble im Livestream von Welt TV ihren Kollegen Michael Wüllenweber, der doch tatsächlich über Politik gesprochen hatte. »Fränkisches ­Essen gibt Kraft«, schrieb Söder später auf Twitter über die jeweils zehn Würstl, die im und Laschet am Freitag vergangener Woche serviert worden waren. »Wir wollen einen Linksrutsch mit vollem Einsatz verhindern.«

Am Ende der kommenden Legislaturperiode wird die Hälfte des für die Begrenzung der Erderwärmung entscheidenden Jahrzehnts verstrichen sein.

Cholesterin statt Sozialismus ist offenbar die Parole der Union für den Endspurt im Wahlkampf – eine Inszenierung von Volkstümlichkeit und ku­linarischer Leitkultur, die wohl an die Angst appellieren soll, eine von Annalena Baerbock geführte Regierung werde den Fleischverzehr untersagen. Doch wer genau hinsieht, erkennt: Laschet und Söder trinken Wasser! Derart volksferne Nüchternheit wäre bei Helmut Kohl oder Franz Josef Strauß undenkbar gewesen.

Im Bodenständigkeitswettbewerb hat daher die SPD die Nase vorn, wohl gerade weil sie auf allzu durchschaubare Inszenierungen verzichtet. »SPD ist Currywurst«, dekretierte Olaf Scholz im August, nach der dritten der »Triell« genannten Fernsehdebatten am 12. September bewies er zudem, dass er eine solche unter erschwerten Umständen, stehend im Gedränge von der Pappschale, ohne zu kleckern verspeisen kann. Unterdessen versucht Baerbock, mit ihrem Bekenntnis zum proletarisch konnotierten Mettbrötchen aufzuholen.

Die Massentierhaltung hat in Deutschland einen Anteil von etwa 3,5 Prozent an den Treibhausgas­emissionen. Der Anteil von Streitereien über die Nahrungsaufnahme in der Klimadebatte ist ungleich höher, weil sich hier trefflich moralisieren und ein Distinktionsgewinn erzielen lässt – in beide Richtungen: mit der bekundeten Sorge um arme Leute, die sich ihre Wurst nicht mehr leisten können, geriert man sich als antielitär; mit der Klage über ignorante Billigfleischkäufer erhebt man sich zum bewussten Konsumenten, der an der kommenden Katastrophe nicht schuld gehabt haben wird.

Auf die Fleischproduktion in Deutschland hat das kaum Einfluss. Sie sinkt, aber nur um etwa 1,5 Prozent im Jahr. Überdies ist Deutschland auch bei Fleisch mit einem Selbstversorgungsgrad von knapp 118 Prozent eine Exportnation; die Ausfuhren können ge­steigert werden, wenn die inländische Nachfrage sinkt. Ohne Verbote ist der Fleischindustrie nicht beizukommen. Doch das Wahlprogramm der Grünen bleibt vage, man will die Tierschutzregeln »deutlich verbessern und umfassend ergänzen«. Ebenso verhält es sich bei der Linkspartei, die »hohe Standards für die Massentierhaltung« fordert, und der SPD, die »konsequent auf die Verbesserung des Tierwohls bei Einführung einer flächenbezogenen Obergrenze« dringt.

Was die übrigen mehr als 96,5 Prozent des Treibhausgasemissionen betrifft, sieht es nicht besser aus. Die in den Parteiprogrammen formulierten Vorgaben reichen nicht aus, wenn Deutschland die Verpflichtungen erfüllen will, die sich aus dem Ziel ergeben, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen (Jungle World 37/2021). Den Grünen kann zugestanden werden, am ehesten so etwas wie einen Plan zu haben – leider ist es der falsche. Einige ordnungspolitische Regeln, vor allem Ausstiegsdaten, sind vorgesehen, ansons­ten aber gilt: »Faire Preise sorgen dafür, dass sich klimagerechtes Handeln lohnt.« Da auch die Grünen wissen, dass ein kontinuierlich steigender CO2-Preis nicht für alle »fair« ist, soll es einen sozialen Ausgleich geben.

Der aber ist ein vages Versprechen, während eine CO2-Abgabe bereits erhoben wird. Auch von jenen zwei Millionen Menschen in Deutschland, die 2019 ihre Wohnung nicht angemessen beheizen konnten, weil sie zu arm waren. Die Vorstellung, durch höhere CO2-Preise für den Verbrauch ließen sich die Emissionen nennenswert verringern, beruht auf der nicht belegten Annahme, es würden im privaten Verbrauch immense Energiemengen verschwendet. Spielraum dürfte es aber nur beim Autoverkehr geben. Ohne den schnellen Aufbau einer neuen Infrastruktur, vom ÖPNV bis zur Gebäudedämmung, werden die Ausgleichszahlungen daher wohl weitgehend zur Kompensation für die Preiserhöhungen dienen – wenn sie dafür ausreichen.

Klimaneutralität bedeutet, dass alle mit der Nutzung fossiler Brennstoffe verbundenen Berufe verschwinden. Nicht einmal bei der kapitalkräftigen Autoindustrie ist sicher, dass sie die Umstellung auf die – in ihrer derzeitigen Form zudem ökologisch fragwürdige – Elektromobilität ohne gewaltige Arbeitsplatzverluste bewältigen kann. Marktwirtschaftlicher Klimaschutz läuft darauf hinaus, mittels Preiserhöhungen eine Pleitewelle zu bewirken, der unternehmerischer Druck auf die Beschäftigten vorausgehen wird, nied­rigere Löhne und Mehrarbeit hinzunehmen. Es ist offensichtlich, dass eine staatskapitalistische Lenkung den Beschäftigten bessere Chancen der sozialen Absicherung bietet.

Dafür wäre eigentlich die am wenigsten marktwirtschaftlich orientierte Partei zuständig. Doch »Die Linke« stellt zwar sozialpolitische Forderungen wie »Nulltarif im ÖPNV«, hat aber keinen umfassenden Klimaschutzplan, der ­erkennen ließe, wie die genannten Ziele erreicht werden können. Die im Wahlprogramm vorgesehenen »insgesamt 40 Milliarden Euro, um die Einkommen aller zu sichern und notwendige Übergänge in klimaschonende Wirtschaftszweige fair zu gestalten«, dürften nicht annähernd ausreichen. Die SPD nimmt das Problem gar nicht erst zur Kenntnis und behilft sich mit Wunschdenken: »Den Klimaschutz machen wir durch gezielte Investitionen in Infrastruktur und Innovationen auch in ­unseren großen Industriebranchen zum Jobmotor.«

Dieses Ziel propagierte bereits ab 2007 die sich damals als »Klimakanzlerin« gerierenden Angela Merkel: Deutschland sollte führende Exportnation im »grünen« Kapitalismus werden. Doch man schaffte es nicht einmal, die deutsche Solarindustrie zu erhalten. Aber stärker noch als die SPD propagieren Union und FDP unverdrossen die realitätsferne Vorstellung, mit nicht näher benannten »Innovationen« die Klimakrise bewältigen und Exporterfolge feiern zu können.

Standortpolitik war auch das einzige Thema, bei dem Außenpolitik (China!) im Wahlkampf wenigstens gestreift wurde, obwohl das afghanische Desaster hinreichend Anlass zur Debatte geboten hätte. Das mag wahltaktisch verständlich sein, da globale Demokratieförderung und Armutsbekämpfung keine populären Themen sind. Doch ernstzunehmende Klimapolitik ist notwendigerweise transnationale Politik. Zahlreiche Autokratien und Diktaturen wie Russland, Saudi-Arabien und Venezuela sind abhängig vom Export fossiler Brennstoffe, auf den sie freiwillig nicht verzichten werden, was auch immer sie versprechen. Dieses Problem wenigstens zur Kenntnis zu nehmen, ist die Voraussetzung dafür, Lösungen zu entwickeln. In anderen Bereichen sind die Lösungen offensichtlich, aber unpopulär, weil unprofitabel für Deutschland. Wer etwa verhindern will, dass ­afrikanische Staaten chinesische Kohlekraftwerke in Betrieb nehmen, muss ihnen erneuerbare Energien zu einem günstigeren Preis anbieten.

Klimaschutz erfordert keinen puritanischen Verzicht, ist aber mit Unbequemlichkeiten und sozialen Risiken verbunden. Der personalisierte Wahlkampf und der Streit über eine vermeintliche grüne Verbotskultur entsprachen daher vielleicht auch den Wünschen großer Teile der Öffentlichkeit, die Prokrastination vorziehen und sich deshalb auf dem Nebenkriegsschauplatz der Moral tummeln. Am Ende der kommenden Legislaturperiode wird aber die Hälfte des für die Begrenzung der Erderwärmung entscheidenden Jahrzehnts verstrichen sein. Allenfalls von einer rot-grün-roten Koalitionsregierung wären einige ernstzunehmende Klimaschutzmaßnahmen zu erwarten, und auch das wohl nur, wenn sie unter dem Druck einer Klimabewegung steht, die sich mehr für den Kapitalismus interessiert als für das individuelle Konsumverhalten.