Die Reaktionen antiimperialistischer Linker auf die Eroberung Kabuls

Gewohnheit schlägt Erfahrung

Antiimperialistische Linke feiern den Sieg der Taliban. Dass die afghanischen Frauen, um die sich auch Anti­imperi­alisten sorgen, ohne westliche Intervention kaum die rigide Sharia-Herrschaft hätten abschütteln können, blenden sie aus.
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Nach dem desaströsen Ende des Militäreinsatzes in Afghanistan ist von Linken weniger Häme und offene Apologie islamistischen Terrors zu vernehmen als 20 Jahre zuvor nach dem Anschlag vom 11. September, der den Einsatz auslöste. Eine gewisse Genugtuung über das Scheitern der Mission war dennoch vor allem aus der antiimperialistischen Linken zu hören und zu lesen.

Die in der Linkspartei aktive Gruppe »Marx 21« etwa veröffentlichte die Übersetzung eines Texts der linken Anthropologen Nancy Lindisfarne und Jonathan Neal, dessen Originalfassung unter anderem auf dem stramm antizionistischen Internetportal Mondoweiss veröffentlicht wurde. »Erstens: Die Taliban haben die Vereinigten Staaten besiegt. Zweitens: Die Taliban haben gewonnen, weil sie mehr Unterstützung in der Bevölkerung haben«, hebt dieser Text an, um dies zu nichts Geringerem als einem »Wendepunkt in der Weltgeschichte« zu erklären. In der Taz sprach Georg Diez unter Berufung auf den US-Autor Spencer Ackerman von einer »Herrschaft des Terrors« und meinte damit nicht die Politik der Taliban, sondern die der USA. Er macht den Afghanistan-Krieg für im Westen grassierenden Rassismus verantwortlich; Lindisfarne und Neal sehen in diesem Krieg auch einen Ausfluss sogenannter Islamophobie, wobei sie vor allem die »Islamfeindlichkeit« liberaler Feministinnen geißeln. Der ehemalige griechische Finanzminister und linke Ökonom Yanis Varoufakis schließlich beschwor auf Twitter »den Tag, an dem der liberale Neocon-Imperialismus ein für alle Mal besiegt wurde«.

Die meisten antiimperialistischen Linken fordern auch die sofortige Evakuierung aller afghanischen Ortskräfte sowie die großzügige Aufnahme weiterer Flüchtlinge und sorgen sich vor allem ostentativ um die Lage der Frauen unter der erneuten Taliban-Herrschaft. Doch diese Solidaritätsbekundungen haben einen schalen Beigeschmack, wenn sie in ein seit Jahrzehnten weitgehend erfahrungsresistent wiedergekäutes Muster gefügt werden. In dem von »Marx 21« veröffentlichten Text liest sich das im Rückblick auf den Beginn des Einsatzes so: »Dann marschierten die Vereinigten Staaten ein, und eine neue Generation afghanischer Frauen schlug sich auf die Seite der neuen Invasor:innen, um den Frauen Rechte zu verschaffen. Auch ihr Traum endete in Kollaboration, Schande und Blut.« Varoufakis meint im erwähnten Tweet, den afghanischen Frauen noch ein aufmunterndes »Haltet durch, Schwestern!« zurufen zu müssen – »danke für nichts« würden wieder unter die Knute der Taliban gezwungene Frauen sich wohl denken, wenn sie so etwas zu Gesicht bekämen.

Natürlich ist Kritik nicht nur am schändlichen Ende des Einsatzes allzu berechtigt und notwendig. So ließen der Vorrang technologischer Kriegsführung und die auch von den westlichen Mächten zu verantwortenden Menschenrechtsverletzungen das rhetorisch beschworene zivile nation building oft zum leeren Wort geraten und man paktierte mit zweifelhaften und korrupten Führungsfiguren und Warlords.

Dennoch ist nicht abzustreiten, dass sich trotz des Misserfolgs des auch von seinen Grundvoraussetzungen her kritisch zu reflektierenden westlichen nation building in Afghanistan Ansätze einer modernen Zivilgesellschaft entwickeln konnten. Zumindest in den Städten ist eine neue Generation vor allem junger Frauen aufgewachsen, die Zugang zu Bildung hatte und individuelle Freiheits- und Menschenrechte einfordert und sich einer rigiden Sharia-Herrschaft nicht fügen möchte. Die durch die erneute Machtübertragung an die Taliban nun in ihrer Existenz bedrohte Kultur- und Medienszene, die Menschenrechtsgruppen und NGOs mit ihren zahlreichen, mutig allen Todesdrohungen trotzenden Frauen und die an allen gesellschaftlichen Fronten kämpfenden Frauenrechtlerinnen sind großteils aus dieser Generation hervorgegangen. Es ist bestenfalls naiv, zu glauben, dies wäre ohne die militärische Entmachtung der Taliban möglich gewesen. Um so schwerer wiegt, wie schäbig diese Menschen von der »westlichen Staatengemeinschaft« im Stich gelassen, ja den Taliban regelrecht zum Fraß vorgeworfen werden.

Diese Widersprüche blenden all jene systematisch aus, die die sich jetzt abspielende Tragödie in eine simple antiimperialistische Dichotomie pressen, um selbstzufrieden »Wir haben es ja schon immer gewusst« ausrufen zu können. Die afghanischen Feministinnen kommen in solchen Äußerungen vor allem als Opfer vor, die sich von den falschen Versprechen westlicher Imperialisten verführen ließen, oder werden gar noch wie bei Lindisfarne und Neal der Kollaboration geziehen.