Tunesien nach dem institutionellen Putsch des Präsidenten

Die große Säuberung

Der tunesische Präsident Kais Saïed entlässt Minister am laufenden Band, seine islamistischen Gegner schwächeln. Am drohenden Staatsbankrott ändert das nichts.
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»Warum denken Sie, dass ich, mit 67, eine Karriere als Diktator beginnen würde?« fragte der tunesische Staatspräsident Kais Saïed am Freitag voriger Woche in einem Interview mit der New York Times und paraphrasierte damit Charles de Gaulle. Er werde die politischen Freiheiten in Tunesien nicht aufheben; die waren in Tunesien 2011 während der Massenproteste, die zum Sturz des autoritären Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali führten, errungen worden.
Der Präsident mit dem Spitznamen Robocop hat am vorvergangenen Sonntag die Regierung Hichem Mechichis entmachtet, das Parlament für 30 Tage suspendiert und die Immunität der Abgeordneten aufgehoben; kurz darauf verhängte er eine nächtliche Ausgangssperre und verbot öffentliche Versammlungen mit mehr als drei Personen. Seitdem legt er einen beachtlichen Aktionismus an den Tag. Am Montag entließ er per Präsidialdekret den Wirtschaftsminister und den für Kommunikationstechnologien und ernannte ihre Nachfolger. Vorige Woche hatte er bereits den Innenminister gefeuert und durch einen ehemaligen Polizisten ersetzt, Ridha Gharsallaoui, seinen ehemaligen Berater in Fragen der nationalen Sicherheit. Zudem hatte er die Minister für Verteidigung und Justiz sowie den Militärstaatsanwalt abgesetzt.
Darüber hinaus präsentierte er sich Mitte voriger Woche als unerbittlicher Kämpfer gegen die Korruption, als er bei einem Treffen mit dem Arbeitgeberverband Utica der FAZ zufolge 460 Unternehmern vorwarf, sie hätten unter Ben Ali »öffentliche Gelder geplündert« und schuldeten dem tunesischen Staat umgerechnet vier Milliarden Euro. Zudem forderte er die Senkung der Lebensmittelpreise.
Proteste gegen seine Herrschaft hat Kais Saïed zurzeit kaum zu fürchten. Einer Umfrage des Ehmrod-Instituts zufolge, die die Online-Zeitung Business News in Auftrag gegeben hatte, befürworteten 87 Prozent der Befragten die Entscheidungen des Präsidenten, 86 Prozent die Suspendierung der Arbeit des Parlaments.
Selbst die islamistische Partei al-Nahda, mit 52 von 217 Abgeordneten die größte Fraktion im Parlament und wichtigste Stütze der Regierung, deren Führung zunächst weitgehend erfolglos zu Protesten gegen Saïeds »Putsch« aufgerufen hatte, hofft nun auf eine Beruhigung der Lage und Dialog. Mitte voriger Woche kündigte die Staatsanwaltschaft Korruptionsermittlungen gegen al-Nahda, gegen Qalb Tounès, die zweitgrößte Partei Tunesiens, die vom Medienunternehmer Nabil Karoui ins Leben gerufen wurde, und eine weitere Partei an. Sie betreffen den Verdacht, den Wahlkampf 2019 mit Geldern ausländischer oder unbekannter Herkunft finanziert zu haben.
Zudem ist in al-Nahda ein Machtkampf entbrannt. Am Samstag verschob Rached Ghannouchi, Gründer und graue Eminenz der Partei sowie Parlamentspräsident, ein Treffen des Shura-Rats, des höchsten Gremiums von al-Nahda, als vor allem jüngere Mitglieder der Partei, aber auch Abgeordnete seinen Rücktritt forderten. Nach zehn Jahren Regierungsbeteiligung wird der Partei vorgeworfen, die Hauptverantwortung für das ökonomische und pandemische Desaster in Tunesien zu tragen; ihren Rückhalt in der Bevölkerung hat sie weitgehend verloren, die Parteibasis bröckelt.
Doch die wachsenden Probleme von Kais Saïeds politischen Gegnern machen seinen autoritären Kurs nicht überzeugender. Nach Ansicht des Politologieprofessors Hatem M’rad hat sich der Präsident nicht nur die Exekutive, Legislative und Judikative angeeignet, sondern auch »eine verfassungsgebende Gewalt«. Das gemäß der Verfassung von 2014 vorgesehene Verfassungsgericht kam wegen Querelen im Parlament über seine Besetzung nie zustande, der Präsident verhinderte im Frühjahr ein neues Gesetz zur Regelung des Problems. »In Ermangelung eines Verfassungsgerichts« sei der Präsident – selbst Verfassungsrechtler – nun der Einzige, der die Verfassung auslege, so M’rad. »Als er die Regierung entließ und das Parlament einfror, schuf er tatsächlich neue verfassungsrechtliche Regeln, die es nicht gab.«
Das hat weitere, bislang ungeahnte Konsequenzen. Vor einigen Tagen veröffentlichte die Ratingagentur Moody’s, die Tunesien bereits im Februar auf B3 mit negativer Aussicht – also kurz vor einem Staatsbankrott stehend – heruntergestuft hatte, einen Kommentar, in dem sie im Hinblick auf Saïeds Handstreich bemängelte: »Das Fehlen eines Verfassungsgerichts« erhöhe »das Risiko einer anhaltenden politischen Krise«; dies werde die Umsetzung eines vom Internationalen Währungsfonds geforderten »Reformpakets« – das unter anderem die Reduzierung der Lohnkosten im öffentlichen Dienst umfasst – weiter verlangsamen, von dem die Auszahlungen im Rahmen eines geplanten neuen IWF-Kreditabkommens abhänge.