Seltsame Proteste in Frankreich gegen Präsident Macrons Pandemiepolitik

Die »Diktatur« des Gesundheitspasses

Nach offiziellen Angaben demonstrierten am Wochenende in ganz Frankreich 160 000 Menschen gegen Präsident Macrons Pandemiepolitik.

Dieses Beispiel droht, in Frankreich in nächster Zeit Schule zu machen: Am Sonntag wurde der Direktor des Freizeitparks Walygator Grand-Est, der früher unter dem Namen Big Bang Schtroumpf (Schlumpf-Urknall) bekannt war und 15 Kilometer nördlich von Metz in Lothringen liegt, körperlich angegriffen. Ein unzufriedener Kunde war nicht ein­gelassen worden, weil er keinen gültigen pass sanitaire (Gesundheitspass) vorweisen konnte, und hatte seinen Unmut auf nonverbale Weise zum Ausdruck gebracht.

Unter die Bezeichnung Gesundheitspass fallen seit kurzem Impf- oder Genesungsnachweise sowie PCR-Tests mit negativem Ergebnis, die belegen sollen, dass der Inhaber des Dokuments mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht Covid-­19 überträgt. Ein am Montag trotz unterschiedlich motivierter Proteste verabschiedetes Gesetz wird einen solchen Nachweis in naher Zukunft, voraussichtlich ab circa dem 5. August – weil zuvor noch das Urteil des angerufenen Verfassungsgerichts erwartet wird –, in Gaststätten, Zügen, Flugzeugen und an vielen Orten mit Publikumsverkehr zur Vorschrift machen, sofern es sich entweder um geschlossene Räume handelt oder dort mindestens 50 Personen zusammenkommen.

Florian Philippot, die frühere Nummer zwei des Front National, bezeichnete den Pass als »pass nazitaire«, Anhänger von ihm stecken sich gelbe Sterne als »Ungeimpfte« an.

Auch für Krankenhäuser gilt die Nachweisregel, aber mit Ausnahme der Notaufnahmen. Ein Gerücht ist es jedoch, wenn etwa François Asselineau, der Vorsitzende der rechtsnationalistischen Politsekte Union populaire républicaine (UPR), behauptet, dass Stimmberechtigte ohne Gesundheitspass künftig von den Wahlbüros ausgeschlossen würden, was die diversen Diktatur- und Apartheidvorwürfe unterfüttern sollte, die von verschiedenen Seiten erhoben wurden.

Nicht viel seriöser sind viele andere Behauptungen sogenannter Kritiker, die im Internet und namentlich bei Face­book kursieren, auch in linken Foren. Dort liest man mitunter, der Putschversuch in der vorigen Woche gegen den Präsidenten Madagaskars, Andry Rajoelina, sowie der Tod des burun­di­schen Präsidenten Pierre ­Nku­runziza vor gut einem Jahr seien daraus resultiert, dass sie sich einem Impfdiktat internationaler Konzerne widersetzt hätten. Nkurunziza, der für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich war, starb im Juni 2020 mutmaßlich an Covid-19; zu dem Zeitpunkt existierte noch kein Impfstoff gegen die Krankheit.

Nicht für medizinische Notversorgung und die Stimmangabe, wohl aber für Theater oder Diskotheken gilt in naher Zukunft: Nur wer geimpft, genesen oder vor kurzem negativ getestet ist, kann Einlass finden; andernfalls droht beim Versuch eine Zutrittsverweigerung, bei polizeilicher Kontrolle eine Geldbuße in Höhe von 135 Euro.

Der ursprüngliche Gesetzentwurf von vor zwei Wochen – in den jedoch eventuell von vornherein Verhandlungsmasse eingebaut war – drohte den Betreibern einer Gaststätte noch mit einer Geldstrafe von maximal 45 000 Euro oder bis zu einem Jahr Haft. Diese Androhung wurde jedoch nach wenigen Tagen auf ein Bußgeld von maximal 1 500 Euro ohne Freiheitsentzug reduziert. Die jüngste Gesetzesfassung, die aus einem Kompromiss zwischen den beiden Parlamentskammern, Nationalversammlung und Senat, in der Nacht zum Montag resul-tiert, präzisiert allerdings, bei einer Häufung von Verstößen drohe eine Strafverschärfung: Wer innerhalb von 45 Tagen dreimal erwischt wird, kann zu maximal 9 000 Euro Geldstrafe oder bis zu sechs Monaten Haft verurteilt werden.

Der erforderliche Nachweis kann mittels eines QR-Codes erbracht werden, der auf Papier bei der Impfung überreicht oder auf dem Smartphone eingescannt wird. Auch ein PCR-Test genügt, doch sollen die bislang noch kostenlos angebotenen und von der gesetzliche Sozialversicherung finanzierten Nasentests ab Herbst in vielen Fällen kostenpflichtig werden. Zur Begründung heißt es, die Allgemeinheit in Gestalt der Beitragzahlenden brauche die Kosten nicht zu übernehmen, falls der Test nur vorgenommen werde, um Impfverweigerern den Zugang zu Freizeitveranstaltungen, Diskotheken oder Restaurants zu ermöglichen.

Im Kern geht es darum, Druck auszuüben, um möglichst viele Menschen zur Impfung zu animieren. In den acht bis zehn Tagen, nachdem Emmanuel Macron den Inhalt des Gesetzentwurfs in einer Fernsehansprache vom 12. Juli ankündigt hatte, stieg die Zahl der Anmeldungen zu Impfungen sprunghaft um vier Millionen.

Das war sicherlich eines der Ziele der Ankündigungen, denn zuvor hatte sich das Impftempo deutlich verlangsamt. Ein Grund dafür war die Urlaubszeit: Da zwischen Erst- und Zweit­impfung jetzt nur noch drei Wochen liegen sollen – im Frühjahr waren es noch sechs Wochen –, fürchteten viele, den Zweittermin aufgrund der Feriensaison zu verpassen. Inzwischen wurde jedoch die Wohnortbindung gelockert, so dass die zweite Dosis auch am Urlaubsort gespritzt werden kann.

Macron und seine Regierung reagierten mit diesen Ankündigungen und dem Gesetzentwurf auf objektive Probleme im Zuge der Ausbreitung der besonders ansteckenden Delta-Variante, doch blieben ihre Antworten gesellschaftlich umstritten. Zwar befürwortet – folgt man den demoskopischen Instituten – eine Mehrheit die Maßnahmen, der Sonntagszeitung Le Journal du dimanche zufolge etwa 58 Prozent; doch bis zu 35 Prozent bekundeten auch Verständnis für Proteste. In ganz Frankreich demonstrierten am 14. Juli, dem Nationalfeiertag, knapp 20 000 Menschen in über 100 Städten gegen die Beschlüsse, am darauffolgenden Samstag nach Angaben des Innenministeriums knapp 120 000, am 24. Juli derselben Quelle zufolge 161 000. Die rechtsextreme Website Riposte laïque behauptete gar, es seien »wohl eine Million« gewesen.

Diese Unmutsbekundungen speisen sich aus irrationalen und aus sozioökonomischen Quellen sowie auch aus bürgerrechtlich motivierten Bedenken. Verschwörungsgläubige wittern die Errichtung einer »Globalistendiktatur«, wie sie mitunter vor laufenden Fernsehkameras bekunden. Rechtsextreme aller Schattierungen ereifern sich über Eingriffe in die biologische Integrität, wenn auch diesmal eher des Einzelnen als des Volkskörpers, zugunsten fremder Interessen – in diesem Fall durch die Impfung der Gesunden zum Schutz von Risikogruppen.

Unter den rechtsextremen Protestierenden tut sich Florian Philippot, die im September 2017 geschasste frühere Nummer zwei des Front National, besonders lautstark hervor; er bezeichnete den Pass als pass nazitaire, Anhänger von ihm stecken sich gelbe Sterne als „Ungeimpfte“ an. In Paris lief Philippot am vorvergangenen Samstag gemeinsam mit der Abgeordneten und enttäuschten Macron-­Anhängerin Martine Wonner und Francis Lalanne, einem Bänkelsänger und Anhänger einer Fraktion der diffusen Bewegung der Gilets jaunes (Gelbe Westen) sowie Befürworter eines Armeeputschs in Frankreich, einer rechten Demonstration voraus. Allerdings fanden in Paris an beiden Samstagen getrennte Demonstrationen an unterschiedlichen Orten statt, weil dort ein anderer Teil der Gelbwesten sowie die protestwilligen Strömungen aus der Linken auf keinen Fall mit Philippot und ähnlichen Leuten zusammen laufen mochten; die rechten Demonstrationen waren jedoch weit größer.

Viele Betreiber von Kultur- oder Freizeiteinrichtungen fürchten derzeit, dass ihnen Kunden fernbleiben, und sei es, weil sie bislang noch nicht die Zeit hatten, sich impfen zu lassen. Die Altersbeschränkung für Impftermine fiel erst am 31. Mai, zuvor konnten Jüngere und Mittelalte sich offiziell nicht ohne besonderen Grund impfen lassen. ­Kinos, in denen bereits seit der vorletzten Juliwoche ein Impf- oder Genesungsnachweis erforderlich ist, wenn eine Vorstellung mindestens 50 Personen fasst, verzeichneten binnen einer Woche einen Kundenrückgang um 70 Prozent. Aus solchen Entwicklungen nährt sich ein ökonomisch motivierter Protest.

Auch ein, wenngleich minoritärer, Teil der Gewerkschaften demonstrierte, zum Beispiel die CGT in Städten wie Orléans und Chartres. Sie hatte sich in ihrer Kritik lange auf die Kündigungsdrohung für nicht impfwillige abhängig Beschäftigte konzentriert; gegen Impfungen als solche sprechen die Gewerkschaften sich nicht aus. Die Kündigungsmöglichkeit wurde allerdings aus der letzten Gesetzesfassung entfernt; diese hatte der konservativ dominierte Senat im Vergleich zum Regierungsentwurf entschärft.

Es bleibt aber bei der Möglichkeit für Arbeitgeber, ab dem 15. September für ungeimpfte Bedienstete im Gesundheitswesen oder bei anderen personenorientierten Dienstleistungen den Arbeitsvertrag zu suspendieren und, solange es dabei bleibt, keinen Lohn zu zahlen. Alternativ ist eine Versetzung in Bereiche ohne Kunden- oder Patientenkontakt möglich. Zu befürchten ist, dass sich dies in ein Sanktionsinstrument gegen aus anderen Gründen ungenehme Beschäftigte verwandeln könnte.