Der Mord an Haitis Präsidenten Jovenel Moïse hinterlässt viele Fragen

Der rätselhafte Tod des Herrn Moïse

In Haiti ist auch nach einer Woche unklar, wer Präsident Jovenel Moïse getötet hat. An der offiziellen Version gibt es Zweifel. Die Auftraggeber dürften aus den Reihen der Oligarchie des Landes kommen.

Gut eine Woche nach der Ermordung von Haitis Staatspräsident Jovenel Moïse am Mittwoch vergangener Woche stehen die Bevölkerung und internationale Beobachter noch immer vor der Frage: Wer hat Moïse umbringen lassen und vor allem warum? Sicher ist nur: Der Präsident wurde am Mittwoch, den 7. Juli, gegen ein Uhr morgens in seinem Wohnhaus in Port-au-Prince erschossen. Seine Ehefrau Martine wurde schwer verletzt, die Kinder und die Angestellten des Paars blieben verschont.

»Die Nachricht war überraschend, doch so überraschend auch wieder nicht«, sagt Frédéric Thomas, Politikwissenschaftler des Centre tricontinental (Cetri), einer der Forschung verpflichteten NGO in Belgien, im Gespräch mit der Jungle World. Entführungen und Morde sind in Haiti seit langem an der Tagesordnung und Präsident Moïse war oft vorgeworfen worden, sich der gewalttätigen Banden zu bedienen, um seine Macht zu sichern. Thomas berichtet jedoch, dass in den vergangenen Monaten Zahl und Brutalität der Gewalttaten stark zugenommen haben. Dass dies nun den Präsidenten treffe, sei allerdings eine neue Qualität.

Oligarchie und organisiertes Verbrechen sind eng miteinander verbunden. Wenige Wohlhabende sichern sich die Exporteinkünfte Haitis, zu denen auch Gewinne aus dem Drogenschmuggel zählen.

Nachdem zunächst völlig unklar war, wer hinter dem Attentat steckte, scheint inzwischen so etwas wie eine offizielle Version zu entstehen. Bereits am Donnerstagabend voriger Woche schien der haitianischen Polizei ein Coup gelungen zu sein: 17 Männer wurden als mutmaßliche Tatbeteiligte verhaftet, einige von ihnen vor laufender Kamera. Den Angaben der Polizei zufolge sollen sie sich mit weiteren elf Männern als Vertreter der US-amerikanischen Drug Enforcement Agency (DEA) ausgegeben und Moïse mit zwölf Schüssen getötet haben. Außerdem sei das Haus durchsucht beziehungsweise verwüstet worden. Unter den Verhafteten sind zwei Haitianer, die auch die US-amerikanische Staatsbürgerschaft haben, die übrigen sind Kolumbianer, darunter ehemalige Angehörige der Streitkräfte Kolumbiens.

Seitdem tritt die Polizei praktisch jeden Tag mit neuen Erfolgsmeldungen und Informationen an die Öffentlichkeit. Weitere Tatverdächte wurden verhaftet, drei sollen bei Schusswechseln getötet worden sein. Sollten die Angaben stimmen, scheint der Anschlag von langer Hand geplant ge­wesen sein: Einige der Attentäter waren schon seit drei Monaten im Land. Kolumbianische Soldaten gelten wegen ihrer Ausbildung durch die USA als außerordentlich kompetente Söldner, sie anzuheuern, dürfte viel Geld kosten.

Am Sonntag meldete sich Moïses Witwe Martine per Twitter aus dem Krankenhaus in Florida, in dem sie behandelt wird. In einer Audiodatei sagt sie, dass politische Gegner ihren Mann ermordet hätten, um die Wahlen und das Verfassungsreferendum zu verhindern, die Jovenel Moïse für den Herbst vorgesehen hatte. Diese sollten ihm zugleich neue Legitimität und mehr Macht verschaffen; er genoss internationale ­Unterstützung für den Plan.

Ebenfalls am Sonntag verkündete die haitianische Polizei eine weitere Festnahme. Der Festgenommene soll ein in Florida lebender Haitianer sein, der mit einem Privatflugzeug eingereist sein soll. In seiner Wohnung in Florida habe man Beweise gefunden – das FBI arbeitet der haitianischen Polizei bei der Aufklärung zu. Ob es sich dabei um den Auftraggeber oder nur um einen Mittelsmann handelt, ist unklar; verschiedene Medienberichte widersprachen einander.

Frédéric Thomas zufolge könne man per Ausschlussverfahren bestimmen, aus welcher Richtung der Mordauftrag gekommen sein muss. »Die erdrückende Mehrheit der Bevölkerung war gegen Moïse«, dennoch sei auszuschließen, dass die zivile Opposition dahinterstecke, da diese einen Ausweg aus dem Chaos von Gewalt und Straflosigkeit anstrebe. Die USA, in deren Interessensphäre Haiti liegt, hätten kein Interesse am Tod Moïses gehabt. »Es bleibt also nur die lokale Oligarchie.«

Moïse, der 2017 im Zuge einer chaotischen Wahl an die Macht gekommen war, galt als Garant des Status quo. Seit 2018 gab es immer wieder Massenproteste gegen seine Regierung, die sich jedoch nicht nur gegen ihn richteten, sondern auch gegen ein System aus Korruption, Gewalt und Straflosigkeit, mittels dessen sich Haitis herrschende Klasse ihre Pfründe sichert, während die Mehrheit der Bevölkerung in bitterer Armut darbt. Es gab zwar Konflikte innerhalb der Oligarchie – bereits im Februar hatte Moïse behauptet, Konkurrenten planten einen Putsch gegen ihn. Warum genau Teile der Oligarchie ein Interesse an seinem Tod hatten, ohne einen Nachfolger zu installieren, bleibt jedoch unklar. Allerdings, so Thomas, solle man nicht glauben, »dass das Chaos die Oligarchie stört«. Sie sei da­ran gewöhnt und könne sogar davon profitieren.

Oligarchie und organisiertes Verbrechen Haitis sind eng miteinander verbunden. Wenige Wohlhabende sichern sich die Exporteinkünfte des Landes, zu denen auch Gewinne aus dem Drogenschmuggel zählen. Seit dem Abzug der UN-Truppen 2017 kontrollieren Banden große Teile von Port-au-Prince. 2020 war es unter dem ehemaligen Polizisten Jimmy Chérizier zu einem ­Zusammenschluss mehrerer Gruppen gekommen, der vor einigen Wochen ­jedoch offenbar zerfallen ist: Gewalttätige Auseinandersetzungen in der Hauptstadt eskalierten Ende Juni, Tausende flohen. Chérizier werden Kontakte zu Moïse nachgesagt. Es könnte sich also auch um die Begleichung einer Rechnung handeln, wie es im kriminellen Milieu üblich ist. Dafür spricht, dass die Tötung Moïses einer Hinrichtung glich.

Allerdings ist auf die Angaben der Behörden nicht unbedingt Verlass. Die Polizei Haitis ist sehr ineffektiv und korrupt; dass sie in diesem Fall »so schnell und so effizient« gewesen sein soll, sei zumindest »erstaunlich«, sagt Thomas. »Viele Menschen in Haiti misstrauen der Polizei.« Und tatsächlich mutet es unglaubwürdig an, dass eine Polizei in so kurzer Zeit solch spektakuläre Ermittlungsergebnisse erzielt haben soll, die zuvor offenbar nichts von dem von langer Hand geplanten Attentat mitbekommen hatte.

Zudem hat einer der beiden festgenommenen Haitianer ausgesagt, er sei als Dolmetscher angeheuert worden und es sei darum gegangen, Moïse festzusetzen, nicht darum, ihn umzubringen. Die Zweifel gehen so weit, dass auch die Version kursiert, die Verhafteten seien gar nicht die Mörder, sondern eigentlich zu Moïses Schutz angeheuert gewesen. Demnach seien sie erst gut eineinhalb Stunden nach dem Mord an der Residenz Moïses eingetroffen. Hinter der Tat steckten vielmehr Moïses Leibwächter. Das würde immerhin erklären, warum es in der Nacht keine Toten und Verletzten außer Moïse und seiner Frau gab, denn für gewöhnlich wurde der Präsident streng bewacht. All diese Angaben stammen jedoch aus Medienberichten, die in der Regel anonyme Quellen zitieren.

Der Tod Moïses hinterlässt ein Machtvakuum. Wer dieses wie füllen kann, ist ungeklärt. Kurz vor seinem Tod hatte Moïse Ministerpräsident Claude Joseph entlassen und Ariel Henry zu dessen Nachfolger ernannt. Das Parlament hat Henry allerdings noch nicht bestätigt. Seit Januar 2020 sind jedoch die Mandate aller Abgeordneter und von zwei Dritteln der Senatoren abgelaufen. Der Rest-Senat ist nicht beschlussfähig. Joseph und Henry sehen sich nun beide befugt, die Geschäfte zu führen.