Frankreichs Präsident lässt an der sogenannten Mitterrand-Doktrin rütteln

Doktrin gegen Auslieferung

Der frühere französische Staatspräsident François Mitterrand gewährte nach Frankreich geflohenen militanten Linken aus Italien Schutz vor Auslieferung. Die sogenannte Mitterrand-Doktrin wurde seither bereits mehrfach auf die Probe gestellt.

Dankbar für eine weitere Gelegenheit, sich echauffieren zu können, zeigte sich kürzlich das rechtsextreme Wochenmagazin Valeurs actuelles. Die ehemalige Pariser Stadträtin Danielle Simonnet unterstütze eine Terroristin, die für den Mord an einem Kommissar verantwortlich sei, titelte das Blatt. Einer größeren Öffentlichkeit war Valeurs actuelles kürzlich durch die Veröffentlichung eines Appells aufgefallen, in dem Militärangehörige implizit mit einem »Bürgerkrieg« drohen.

Simonnet ist Politikerin der linkssozialdemokratischen Partei La France insoumise (Das unbeugsame Frankreich, LFI), die in Stadtteilen im Osten von Paris relativ populär ist – am Sonntag erhielt Simonnet dort bei der Nachwahl für einen Sitz im Unterhaus des französischen Parlaments knapp 21 Prozent der Stimmen im 20. Bezirk der Hauptstadt.

Simonnet zählt zu den Personen, die sich Ende April mit der in demselben Bezirk tätigen Sozialarbeiterin Marina Petrella solidarisch erklärten. Die 66jährige war kürzlich ebenso wie andere italienische Staatsangehörige festgenommen worden, die in den siebziger oder achtziger Jahren in der militanten Linken ihres Landes aktiv gewesen und später nach Frankreich gekommen waren.

Petrellas Verhaftung erfolgte aufgrund eines Auslieferungsbegehrens der italienischen Justiz. Sieben Personen wurden im Morgengrauen aufgegriffen, zwei weitere stellten sich am darauffolgenden Tag der Polizei. Ein zehnte Person, Maurizio Di Marzio, tauchte erfolgreich ab, und dies aus nachvollziehbarem Grund: Wegen der Verjährung der ihm zu Last gelegten Vergehen konnte dem Auslieferungsbegehren gegen ihn ab dem 10. Mai nicht länger stattgegeben werden. Er vermied also, vor Erreichen dieses Stichdatums doch noch nach Italien ausgeliefert zu werden.

Die übrigen neun wurden binnen zwei Tagen der für Auslieferungsverfahren zuständigen Kammer des Pariser Berufungsgerichts vorgeführt. Diese beschloss, bei allen Betreffenden Auslie­ferungsverfahren einzuleiten, die nun mehrere Monate darauf geprüft werden, ob die Rechtsgrundlagen und der Gesundheitszustand der Personen Auslieferungen zuließen. Alle neun wurden unter Meldeauflagen auf freien Fuß gesetzt; bis zur Entscheidung dürfen sie Frankreich nicht verlassen.

Die Festnahmen gingen auf eine Anordnung von Staatspräsident Emmanuel Macron zurück. Es handelt sich also um eine explizit politische Entscheidung. Nicht zum ersten Mal wird dadurch an der sogenannten Mitterrand-Doktrin gerüttelt. François Mitterrand war von 1981 bis 1995 französischer Staatspräsident, 1996 verstarb er.

Der politisch wandlungsfähige Mitterrand, Mitglied des Parti socialiste (Sozialistische Partei, PS), hatte in jungen Jahren politisch weit rechts gestanden. Als sozialdemokratischer Präsident gab er 1985 ein Versprechen, das die sich in Frankreich aufhaltenden flüchtigen Mitglieder bewaffneter linker Gruppen aus Italien betraf. Zur Frage, unter welchen Bedingungen sie in Frankreich bleiben könnten, äußerte Mitterrand sich zunächst am 1. Februar desselben Jahres in einer Rede im westfranzösischen Rennes. Er sagte, Frankreich respektiere das Recht auf Asyl, fügte jedoch hinzu, die Betreffenden hätten bei ihrer Ankunft in Frankreich keine entsprechenden Anträge gestellt. Solche hätten damals noch gestellt werden können. Seit der Gründung der Europäische Union (EU) 1992 werden Asylanträge von Staatsange­hörigen von EU-Ländern in anderen EU-Ländern hingegen grundsätzlich als unzulässig betrachtet.

Mitterrand unterschied in der Rede zwischen italienischen Staatsbürgern, die als »reuige Terroristen« nach Frankreich geflüchtet seien, und »etwa 30 unter ihnen«, die »aktiv und uneinsichtig« seien. Frankreich sei weniger vom Terrorismus getroffen worden als andere Staaten – neben Italien dürfte er vor allem an Westdeutschland mit den Anschlägen der Roten Armee Fraktion (RAF) gedacht haben –, doch werde es sich »solidarisch mit ­seinen europäischen Partnern« zeigen. Bei einem ­Arbeitsessen mit dem damaligen italienischen Ministerpräsidenten Bettino Craxi am 22. Februar desselben Jahres präzisierte Mitterrand, die erste Gruppe bestehe aus rund 300 Personen, die zweite bezifferte er erneut auf etwa 30.

Aus diesem Anlass zeigte Mitterrand sich unter der Bedingung, dass den Betreffenden Mord oder schwere Körperverletzung – wörtlich: »Blutsverbrechen« (crimes de sang) – vorzuwerfen seien, zu Auslieferungen bereit. Dazu benötige der französische Staat »se­riös bearbeitete Akten«, die eine Verwicklung in solche Taten bewiesen. Hintergrund dieser Stellungnahme war, dass auch linksliberale französische Kreise die Arbeit der italienischen Sonderjustiz in Terrorismusverfahren für voreingenommen hielten. Nicht zu Unrecht: Im sogenannten schleichenden Bürgerkrieg der siebziger Jahre in Italien blieben neofaschistische und nachrichtendienstliche Gewalttaten unbeachtet, schienen also von den Behörden geduldet zu werden. In den Augen vieler genügten die italienische Polizei und Justiz rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht.

Mitterrands Justizminister Robert Badinter (PS) hatte ein offenes Ohr für diese Kreise. Er wurde international durch die 1981 beschlossene Abschaffung der Todesstrafe bekannt. Mitterrand hatte ihn dabei unterstützt, ohne dass dieses Anliegen ihm eine Herzensangelegenheit gewesen wäre; als Justizminister hatte Mitterrand unter anderem 1957 die Hinrichtung des Kommunisten und Antikolonialisten Fernand Iveton gebilligt.

Am 21. April 1985 sprach Mitterrand auf einem Kongress der traditionsreichen, 1898 im Zuge der Dreyfus-Affäre gegründeten Liga für Menschenrechte (LDH). Hier kündigte er an, diejenigen Italienerinnen und Italiener würden nicht ausgeliefert, die vor 1981 – also dem Jahr seines Amtsantritts als Prä­sident – an terroristischen Aktivitäten teilgenommen, aber »mit dem infer­nalischen Mechanismus gebrochen« und in Frankreich »eine neue Phase ­ihres Lebens begonnen« hätten. Damit schien er den Ausstieg aus der bewaffneten Linken zur einzigen Bedingung der Nichtauslieferung zu machen.

Diese uneinheitlichen Äußerungen wurden später als sogenannte Mitterrand-Doktrin zusammengefasst und gelten als Staatsversprechen. Allerdings besitzen sie keinen juristischen Charakter und begründen keine einklagbaren Rechte. Jacques Chirac, Präsident von 1995 bis 2007, stellte die Mitterrand-Doktrin Anfang der nuller Jahre in Frage. Im August 2002 erfolgte die Auslieferung des 1991 wegen Zugehörigkeit zu einer bewaffneten terroristischen Organisation und der Begünstigung von Morden veurteilten Paolo Persichetti. Zwar wurde er im Fall der Ermordung von Marco Biagi, eines Be­raters des damaligen italienischen Ministerpräsident Silvio Berlusconi, im März 2002, mit der die Auslieferung begründet worden war, von jeglicher Schuld freigesprochen; die Tat wurde den sogenannten Nuove Brigate Rosse (Neue Rote Brigaden) zugeschrieben. Doch musste Persichetti in Italien eine Altstrafe von 19 Jahren Haft zum Großteil verbüßen.

Die geplante Auslieferung des Kriminalromanautors und früheren militanten Linken Cesare Battisti mobilisierte 2004 viele französische Intellektuelle.

Die geplante Auslieferung des Kriminalromanautors und früheren militanten Linken Cesare Battisti mobilisierte 2004 viele französische Intellektu­elle: Darunter waren nicht nur radikale Linke, sondern auch Anhänger der französischen Grünen, die Kriminalromanautorin Fred Vargas und der libe­rale, als Fernsehphilosoph geltende Schriftsteller Bernard-Henri Lévy. Battisti bestritt die gegen ihn erhobenen Vorwürfe, darunter den, er sei 1979 als Mitglied der Gruppe Proletari Armati per il Comunismo (Bewaffnete Proletarier für den Kommunismus, PAC) an vier Morden beteiligt gewesen.

Er konnte 2004 nach Brasilien entkommen und wurde dort während der Amtsjahre des Präsidenten Lula de ­Silva faktisch geschützt, geriet jedoch unter dessen Nachfolger Jair Bolsonaro in Gefahr. 2019 wurde er an das Nachbarland Bolivien ausgeliefert, an Italien überstellt und umgehend auf Sardinien inhaftiert. Im selben Jahr erklärte er sich für schuldig.

Das französische Wochenmagazin Marianne vermutet, die relativ frische Erinnerung daran trage ebenso zum Ausbleiben einer mit der Medienkampagne von 2004 vergleichbaren Mobi­li­sierung gegen die neuen Auslieferungspläne bei wie die Notwendigkeit, den bewaffneten Jihadismus zu bekämpfen. Viele Medien stellen diesen Zusammenhang her und vermuten, Macron zeige sich für die italienischen Auslie­ferungsbegehren besonders offen, da er auf die internationale Kooperation gegen den Terrorismus angewiesen sei. Allerdings vergessen manche darüber, dass der linke bewaffnete Kampf nicht mit dem Jihadismus gleichgesetzt werden kann, denn dieser zielt vorrangig auf beliebig ausgewählte Zivilisten.