Vor der Parlamentswahl verstärkt das algerische Regime die Repression

Die Repression nimmt zu

Vor den Parlamentswahlen geht das autoritäre Regime in Algerien verstärkt gegen die Protestbewegung Hirak vor.

Viel zu lachen gab es in den vergangenen Jahren in Algerien nicht. Die Proteste der Hirak-Bewegung schreckten den alteingesessenen Politikerklüngel auf, der sich zu vorgezogenen Parlamentswahlen bequemen musste, die für den 12. Juni angesetzt sind. Ein ­besonders dreister Täuschungsversuch in diesem Zusammenhang sorgte indes doch für Gelächter: Ein Kandidat im Bezirk Chlef im Nordwesten des Landes, offiziell als »unabhängig« tituliert, zeigt sich auf den Wahlplakaten fast schon wie eine Karikatur des korrupten Büttels – mit dunkler Sonnenbrille, finsterem Lächeln, in einem dunklen Sakko und mit auffälliger Armbanduhr. Welcher Mafia er denn entsprungen sei, fragen sich nun Kommentare abfällig bis belustigt auf Facebook.

Mit der vorgezogenen Parlamentswahl möchten die Machthaber im Land neue Legitimation für ihre politische Herrschaft einholen. Die fünfjährige Legislaturperiode des im Mai 2017 gewählten Parlaments ist noch nicht abgelaufen, doch wegen der im April 2019 unter dem Druck von Massenprotesten erfolgten Absetzung des 20 Jahre lang amtierenden, aber damals de ­facto bereits seit Jahren amtsunfähigen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika erschien die personelle Zusammensetzung der Nationalversammlung immer anachronistischer. Zum dritten Mal seit Beginn der Proteste versuchen die Machthaber nun, die Bevölkerung zu Wahlen zu bewegen: zunächst zur umstrittenen, weithin boykottierten Präsidentschaftswahl vom 12. Dezember 2019, dann zu einem Verfassungsreferendum mit noch geringerer Beteiligung am 1. November vorigen Jahres – nun soll es eine Parlamentswahl richten.

Von 1 500 landesweit eingereichten Listen hat die zumindest formal unabhängige nationale Wahlbehörde ANIE insgesamt 1 200 unter Berufung auf eine Bestimmung des Wahlgesetzes abgelehnt, wonach Bewerber nicht »notorische Beziehungen zu zweifelhaft verdientem Geld und illegalen Geschäften« aufweisen dürfen. Rund die Hälfte der eingereichten Kandidaturen sind offiziell unabhängig, jedoch meist informell mit den etablierten, weithin diskreditierten Parteien wie der Nationalen Befreiungsfront (FLN) oder der Nationalen demokratischen Sammlung (RND) verbunden.

Die seit 2019 als Hirak bekannt gewordene Protestbewegung machte in den vergangenen drei Monaten erneut durch größere Demonstrationen auf sich aufmerksam. Ab Ende März nahm jedoch auch der staatliche Druck auf die Protestierenden zu. Man versuchte die Bewegung schlechtzureden und rückte zwei Gruppen ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die bei vielen auf Ablehnung stoßen: kabylische Separatisten einerseits, oppositionelle Is­lamisten – zu unterscheiden von jener Fraktion, die seit 20 Jahren das Mit­regieren in einer untergeordneten Position akzeptiert hat – andererseits. Letztere werden vor allem von der Vereinigung Rachad (ungefähr: Rechtschaffenheit) ­repräsentiert. Die ­Organisation wurde 2007 in London gegründet; der in der Schweiz als Flüchtling anerkannte Physiker Mourad Dhina sowie der im Vereinigten Königreich lebende ehemalige Diplomat Mohamed Larbi-Zitout leiten sie. Rachad steht weitgehend in der Tradition der 1989 gegründeten, 1992 verbotenen Islamischen Rettungsfront (Front islamique du salut, FIS), die einen blutigen Bürgerkrieg vom Zaun gebrochen hatte.

Im Laufe des Frühjahrs propagierte die Regierung in den staatlichen Medien, Rachad führe die Proteste des Hirak an. Das stimmt zwar nicht, verschaffte dieser Vereinigung allerdings genügend Beachtung, um nunmehr selbst lautstark aufzutreten und zu versuchen, sich mit eigenen Schildern etwa gegen »­Soldaten und Nachrichtendienstler, wahre Terroristen« an die Spitze einiger Demonstrationen zu stellen. Bis dahin war Rachad bei den Protesten im Hintergrund geblieben.

Dieses Manöver war sowohl im Inte­resse des Regimes als auch der nicht minder autoritär ausgerichteten Islamisten. Anfang des Jahres hieß es zudem, dass diese ein taktisches Bündnis mit der separatistischen Bewegung für die Autonomie der Kabylei (MAK) unter Ferhat Mehenni anstrebe, die nicht die Autonomie, wie ihr Name nahelegt, sondern die staatliche Unabhängigkeit der wichtigsten Berberregion in Algerien fordert. Am 16. Februar soll es algerischen Medienberichten zufolge in der Stadt Kherrata zu einem Treffen zwischen Vertretern von MAK und Rachad gekommen sein. Zwei Monate später zerbrach das Bündnis laut diesen Berichten allerdings, nachdem in Tizi Ouzou in der Kabylei mutmaßliche MAK-Anhänger antiarabische Slogans gerufen und »die Araber« dazu aufgefordert hatten, die Kabylei zu verlassen. Tags darauf skandierten in ­Algier Fußballfans, die Rachad gerne für sich mobilisiert, Slogans gegen den MAK und warfen ihm vor, vom Geheimdienst gegründet worden zu sein. Fast zur gleichen Zeit behauptete die Staatsmacht, in der Kabylei das Waffendepot einer MAK-Zelle ausgehoben zu haben, doch es gilt vielen Beobachtern als sehr unwahrscheinlich, dass die Separatisten das Risiko, Waffenlager anzulegen, eingehen würden. Vorige Woche stufte der Nationale Sicherheitsrat sowohl den MAK als auch Rachad als »terroristisch« ein.

Anfang Mai änderten die Behörden die bisherige Praxis im Umgang mit den Hirak-Protesten und behaupteten, Kundgebungen seien nicht nur – wie im Gesetz vorgesehen – anmeldungs-, sondern auch genehmigungspflichtig. Dies kommt einem Verbotsversuch gleich. Am Freitag vorvergangener Woche konnte die Demonstration in Algier wegen starker Polizeipräsenz erstmals seit Juni 2020 nicht stattfinden. Am Freitag voriger Woche wurden alle Zugverbindungen in die Hauptstadt ­Algier unterbrochen und Internetverbindungen blockiert; nach Angaben der Algerischen Liga für die Verteidigung der Menschenrechte (LADDH) kam es zu über 800 Festnahmen. Die Anzahl jener Gefangenen, denen lediglich politische Äußerungen zur Last gelegt werden, stieg von rund 60 zu Jahresbeginn auf über 120 in der vorigen Woche.

Nun droht einer Partei das Verbot: Am Wochenende wurde bekannt, dass die Regierung gegen die trotzkistisch-undogmatische Sozialistische Arbeiterpartei (PST) per Eilverfahren einen entsprechenden Antrag beim obersten Verwaltungsgericht einreichte. Die Gruppe spielte bislang vor allem bei Protestbewegungen wie in der Kabylei im Frühjahr 2001 sowie in unabhängigen Gewerkschaften und an Universitäten eine gewisse Rolle.