Die Krise der Labour Party

Sozialdarwinismus statt Streik

Die Ergebnisse der Kommunalwahlen in England zeigen: Die Labour Party hat bislang keine Antwort auf die Abkehr der arbeitenden Klasse gefunden.
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Für die britische Labour Party waren die Kommunalwahlen am 6. Mai ein nahezu historisches Debakel. In ihrer ehemaligen Hochburg Tees Valley erhielt der Bürgermeisterkandidat der konservativen Tories, Ben Houchen, 73 Prozent der Stimmen. In der nahegelegenen Hafenstadt Hartlepool, jahrzehntelang eine Labour-Bastion, gewann die Tory-Kandidatin Jill Mortimer bei einer Nachwahl ein Mandat im britischen Unterhaus. Das nordenglische Kernland der britischen Linken wendet sich der Konservativen Partei von Premierminister Boris Johnson zu.

In der Labour Party gibt es Streit über die Gründe für die Niederlage. Ähnliche Fragen beschäftigen auch Linke in anderen Ländern. In Frankreich und Italien sind die einst mächtigen sozialdemokratischen Parteien nur noch Randerscheinungen oder haben sich gespalten. In den USA stieß Donald Trump ausgerechnet bei Beschäftigten in Industrie und Gewerbe, der traditionellen Klientel der Demokratischen Partei, auf große Sympathien.

Einer unter Linken besonders populären These zufolge ist ihr Niedergang selbstverschuldet. Parteien wie Labour oder die US-Demokraten hätten sich in den vergangenen Jahrzehnten von ihrer traditionellen Wählerschaft ab- und einem linksliberalen akademischen Milieu in den urbanen Zentren zugewendet: Identitätspolitik statt Klassenkampf.

Tatsächlich setzte der Niedergang linker Parteien mit dem Triumph marktradikaler Konzepte Ende der siebziger Jahre ein. Damals begann eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, die noch immer anhält und tiefe soziale Brüche verursacht hat. Der traditionsreiche US-amerikanische Think Tank Rand Corporation, ursprünglich gegründet, um die Streitkräfte zu beraten, veröffentlichte im vergangenen Jahr eine Studie über die wachsende soziale Ungleichheit in den USA. Demzufolge wurden seit 1975 fast 50 Billionen US-Dollar von den unteren 90 Prozent der Einkommensbezieher an das oberste Prozent umverteilt. Hätte man diesen Betrag gleichmäßig auf die Monatslöhne der Beschäftigten aus den unteren 90 Prozent verteilt, wäre dieser im Durchschnitt um 1 144 Dollar höher ausgefallen – über die gesamten 45 Jahre hinweg, wie das Time-Magazin errechnete. Nicht nur die Realeinkommen eines großen Teils der Bevölkerung gingen zurück, auch öffentliche Dienstleistungen schwanden und die Infrastruktur verfiel.

In Großbritannien ist die Entwicklung zumindest vergleichbar. Die britische Klassengesellschaft hat nicht nur die auf die Französische Revolution folgenden Kriege, zwei Weltkriege und das Ende des Empires nahezu unbeschadet überstanden. Sie wurde mit der wirtschaftsliberalen Politik unter Premierministerin Margaret Thatcher (1979–1990) neu belebt. Das Resultat ist »die materiell am schärfsten geteilte Gesellschaft der britischen Geschichte«, wie der Autor und Journalist Robert Verkaik in seinem Buch »Posh Boys: How English Public Schools Ruin Britain« schreibt. Die 1 00 reichsten Familien verfügen demnach über ein Gesamtvermögen von 547 Milliarden Pfund (632 Milliarden Euro), während vier Millionen von derzeit 66 Millionen Briten in dauerhafter Armut leben. »Wer arm geboren wird, stirbt wahrscheinlich auch arm«, kommentiert Verkaik.

Viele Labour-Mitglieder fordern daher, sich wieder auf progressive Programmatik zu besinnen. Doch der marktradikale Grundsatz, demzufolge das Streben nach individuellen Vorteilen unbedingt zu unterstützen sei, hat nicht nur materiell fatale Folgen für die unteren sozialen Schichten. Diese haben größtenteils auch den Glauben daran verloren, dass selbsttätiges kollektives Handeln das eigene Schicksal verbessern kann. Gab es in Großbritannien in den siebziger Jahren durchschnittlich rund 2 00 Streiks im Jahr, waren es nach Angaben der International Labour Organisation (ILO) drei Dekaden später jährlich noch rund 155.

An die Stelle von Solidarität ist auch in den unteren sozialen Schichten häufig ein sozialdarwinistisches Credo getreten: Legitim ist, was nützt. Populistische Politiker sind erfolgreich, nicht obwohl, sondern weil sie skrupellos sind, lügen und Vorteile auf Kosten anderer verschaffen. Johnson bedient diese Erwartungen meisterhaft. Er propagiert einen aggressiven Nationalismus und verbindet ihn mit einer großzügigen Sozialpolitik. So pumpt er nun Geld in nordenglische Kommunen wie Tees Valley, um dort die Stimmen der früheren Labour-Wählerschaft zu gewinnen. Das kommt an, und darauf hat Labour bislang keine Antwort gefunden.