Wie die russische Regierung gegen jugendliche Comicfans vorgeht

Gefährliche Comics

Der russische Staat geht unter dem Vorwand des Jugendschutzes gegen Comicfans vor.

Jugendliche haben nach Ansicht vieler in Russland subversive Tendenzen, ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht. Je uneinsichtiger sie sich gegen elterliche Erziehung, schulische Vorgaben und staatliche Normierung zeigen, ­desto mehr fühlen sich manche Erwachsene berufen, ihrer vermeintlichen Fürsorgepflicht nachzukommen. Dieses Misstrauen hat sich seit den landesweiten Protesten nach der Festnahme des Oppositionellen Aleksej Nawalnyj im Januar verstärkt.

Das Loft-Projekt »Etashi« (Etagen) ist das erste nach allen Regeln der Gentrifizierung eröffnete Kulturzentrum Sankt Petersburgs. Es befindet sich in der Stadtmitte in einer ehemaligen Brotfabrik und bietet Raum für Cafés, Ausstellungen, einen Comicladen und dergleichen mehr. Wer dort nur abhängen will, kann sich im Regelfall ungestört im Hof oder im Innern des weitläufigen Gebäudes aufhalten. Ältere Menschen verirren sich dorthin eher selten, die »Etagen« gelten als Domäne der unter 30jährigen. Am vorvergangenen Wochenende trafen sich dort Teenager mit bunten Haaren oder anderen Attributen, die sie schon äußerlich als Angehörige der Anime-Szene erkennbar machen. Sie schauen nicht nur japanische Animationsfilme oder diskutieren über Manga-Comics, sondern interessieren sich auch für costume play, umgangssprachlich »Cosplay« genannt, bei dem Anime-Fans in entsprechender Kostümierung in die Rolle ihrer Helden schlüpfen.

Anime-Kultur nimmt in Russland inzwischen eine ähnliche Rolle ein wie die Rockszene in der späten Sowjetunion.

Normalerweise hätten die Jugendlichen ihr Treffen in einer der umliegenden Fast-Food-Ketten fortgesetzt. Stattdessen wurden bis zu 20 von ihnen, im Alter zwischen zwölf und 16 Jahren, im Polizeiwagen auf die Wache gebracht – wegen homosexueller Propaganda ­unter Minderjährigen. Die Menschenrechtsorganisation OVD-Info berichtete unter Berufung auf Eltern der festgenommenen Kinder, eine Frau, deren Identität unklar sei, sei auf die Teenager zugegangen und habe ihnen vorgeschlagen, sich vor dem Hintergrund einer von ihr mitgebrachten Regenbogenfahne fotografieren zu lassen. Diese hätten nichts dabei gefunden, schließlich gehören solche Fahnen in den »Etashi« zum Verkaufssortiment.

Auf der Polizeiwache soll den Jugendlichen die Teilnahme an einer LGBT-Veranstaltung vorgeworfen worden sein, berichtet OVD-Info weiter. Später teilte die Leitung des Kulturzentrums in einer schriftlichen Stellungnahme mit, sie sei über die Veranstaltung nicht informiert gewesen, die Besucher des Zentrums teilten die Ansichten der Beschuldigten nicht. Wegen einer möglichen Rufschädigung habe sie vorsorglich die Polizei gerufen.

OVD-Info zufolge wurden die Jugendlichen Stunden später wieder entlassen. Strafrechtliche Konsequenzen wird der Fall kaum nach sich ziehen, aber ihre Festnahme dürfte die jungen Leute noch lange beschäftigen. Anfangs wurden weder ihre Eltern noch Anwälte zu den Jugendlichen vorgelassen – eine in Russland gängige, wenn auch nicht zulässige Praxis.

Animes, die dazu einladen, in eine eigene Welt abzutauchen, sind dem Staat offenbar suspekt. 2018 wurde in Machatschkala, der Hauptstadt der ­russischen Teilrepublik Dagestan im Nordkaukasus, kurzfristig ein Anime-Festival abgesagt. Die Veranstalter wurden zu einem vorbeugenden Gespräch bei der Polizei vorgeladen, nachdem es im Internet homophobe Vorwürfe und Drohungen gegen das Theater gegeben hatte, in dem das Festival stattfinden sollte. Die Anime-Kultur nimmt in Russland inzwischen in mancher Hinsicht eine ähnliche Rolle ein wie die Rockszene in der späten Sowjetunion. Doch trotz einer strengen offiziellen Reglementierung setzte sich diese im Untergrund durch. Staat und Partei konnten das Emanzipationsbestreben der Jugend letztlich nicht aufhalten.

Heutzutage kehrt Russland zurück zur staatlichen Reglementierung. Im Januar und Februar erließen mehrere Amtsgerichte in Sankt Petersburg ein Verbot gegen eine Reihe von Anime-Filmen und -Serien. Betroffen ist unter anderem die bekannte Serie »Death Note«. Die Staatsanwaltschaft hatte ihre Klage mit der Darstellung von Gewaltpropaganda, Prostitution und suizidalen Gedanken begründet, was die psychische Entwicklung von Kindern schädigen könnte. Dem schlossen sich die Gerichte an. Auch Musiktitel ließen Gerichte aus dem Internet entfernen. Zudem verboten russische Behörden seit 2018 Dutzende Konzerte vor allem von HipHop-Künstlern.

Das für die Schulbildung zuständige Aufklärungsministerium empfiehlt indes, der jungen Generation den rechten Weg weniger durch Druck als durch die Einbindung in die staatliche »Russische Schülerbewegung« zu weisen. Bei der ­miltärisch-patriotischen Erziehung zur Vorbereitung auf den Wehrdienst stehen Vorträge, Spiele und Treffen mit als »Helden Russlands« ausgezeichneten Personen auf dem Programm. Fans von Animes dürfte das wenig Freude bereiten.