Die italienische Linke ist orientierungslos

Die linke Leerstelle

Hundert Jahre nach der Gründung der Kommunistischen Partei Italiens, einst die mächtigste KP in Westeuropa, ist die Linke im Land zerstritten und marginalisiert. Die Nachfolgepartei der KPI, der Partito Democratico, kann sich kaum entscheiden, ob sie lieber mit linken Kleinparteien oder neoliberalen Populisten koalieren will.

Im Januar 1921 wurde der Partito Comunista Italiano (PCI) gegründet. Im Januar dieses Jahres, zum 100. Jahrestag, distanzierte sich der Vorsitzende des Partito Democratico (PD), Nicola Zingaretti, von den sowjetkommunistischen »Gräueltaten« und bekannte sich zugleich zum sogenannten Eurokommunismus, dem sich die Partei nach dem Tod Stalins zugewandt hatte. Deren Kulturarbeit habe das republikanische Selbstverständnis »im Herzen der italienischen Gesellschaft« verankert.

Unter dem Motto »Piazza Grande« war Nicola Zingaretti angetreten, die linken Splitterparteien und sozialen Bewegungen für ein Bündnis gegen den Aufstieg der neofaschistischen Rechten zu gewinnen.

Allerdings haderte Zingaretti anlässlich des Jubiläums auch mit den Folgen der Auflösung der einst größten kommunistischen Partei Westeuropas. Nach 1989 sei die Linke der historischen Aufgabe nicht gerecht geworden, sich eine neue, moderne Ausrichtung zu geben. In den Monaten nach dem Fall der Berliner Mauer hatte sich der PCI zuerst seines Namens, dann des Großteils seiner ohnehin längst eher sozialdemokratischen Inhalte entledigt. Was nach diversen linken Abspaltungen von der Nachfolgepartei übrig geblieben war, fusionierte 2007 mit einem liberalen, christlich-sozialen Parteienbündnis zum PD.

Sechs Wochen nach der Rede, am 4. ärz, verkündete Zingaretti seinen Rücktritt vom Parteivorsitz. Er schäme sich für den PD, der mitten in der Covid-19-Pandemie um Regierungsposten streite, anstatt sich um die wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes zu kümmern. Mit Zingarettis Rücktritt ist auch sein Unterfangen gescheitert, auf der Basis des PD eine neue linke Sammlungsbewegung zu begründen.

Unter dem Motto »Piazza Grande« war Zingaretti angetreten, die zahlreichen Splitterparteien und sozialen Bewegungen links der Demokratischen Partei für ein Bündnis gegen den Aufstieg der neofaschistischen Rechten zu gewinnen. Im Frühjahr 2019 wurde er mit diesem Vorschlag in einer Urabstimmung, an der sich auch Nichtparteimitglieder beteiligen konnten, mit großer Mehrheit an die Spitze der Demokraten gewählt. »Piazza Grande« zitiert einen populären Song des Liedermachers Lucio Dalla; das weckt Erinnerungen an die siebziger Jahre, als die Linke sogar unabhängig von der Kommunistischen Partei und ihren Organisationen noch Massen mobilisieren und große Plätze füllen konnte.

Doch fehlte Zingaretti parteiintern die Durchsetzungskraft, um die unterschiedlichen Strömungen zusammenzubringen: Der linksliberale Parteiflügel war sich uneinig, wie das Verhältnis zum Movimento 5 Stelle (M5S) zu gestalten sei. Der rechte Parteiflügel folgte weiter dem neoliberalen Kurs des ehemaligen Vorsitzenden und Ministerpräsidenten Matteo Renzi, obwohl sich dieser 2019 vom PD abgespalten und die neue Partei Italia Viva gegründet hatte.

Unter dem Vorwand, es gehe im Ausnahmezustand der Pandemie nicht anders, begrüßte im Februar die Mehrheit der PD-Fraktion die Ablösung der von Giuseppe Conte geführten Regierungskoalition des PD und anderer kleinerer sozialdemokratischer Parteien mit dem M5S, die Renzi und Italia Viva wegen Uneinigkeiten über die Verteilung von EU-Coronahilfen provoziert hatten. Ohne Vorbehalte stimmte diese Mehrheit sodann für eine um die rechten Parteien Forza Italia und Lega erweiterte Einheitsregierung unter der Führung von Mario Draghi. Der ehemalige Ministerpräsident Enrico Letta, der ohne Gegenkandidaten Mitte März in einer parteiinternen Abstimmung zum Nachfolger Zingarettis gewählt wurde, bekräftigte in seiner Antrittsrede: »Dra­ghis Regierung ist unsere Regierung.« Der PD verortet sich nun wie vor Zingaretti wieder eindeutig in der bürgerlich-liberalen Mitte, auf fortschrittlich gebürstet durch eine proeuropäische Rhetorik und das Bekenntnis zu den neuen Prioritäten der EU-Kommission, »Green Deal« und Digitalisierung.

Mit der Geschichte der italienischen Linken verbindet Enrico Letta nach eigenem Bekunden allein sein Vorname. Enrico Berlinguer hatte als Generalsekretär des PCI 1973 die Strategie eines »Historischen Kompromisses« zwischen Kommunisten und Christdemokraten zur Stabilisierung des Landes vorgeschlagen, gegen neofaschistische Putschversuche, aber auch gegen die seit 1968 starke außerparlamentarische Linke. Letta, der seine politische Laufbahn in christdemokratischen Jugendorganisationen begann, versteht den PD als Verwirklichung dieses Kompromisses. Bereits 2013 hatte er als Ministerpräsident für einige Monate eine große Koalition mit Parteien der gemäßigten Rechten geführt.

In seiner ersten Rede als PD-Vorsitzender nannte er nur die extreme Rechte, also Matteo Salvinis Lega und Giorgia Melonis Fratelli d’Italia, als ­politische Gegner. Da der »neue PD« jedoch von einer eigenen parlamentarischen Mehrheit weit entfernt ist, beteuert auch Letta, die Partei für ein Mitte-links-Bündnis öffnen zu wollen. Wer aber könnte den Part der Linken übernehmen?

Die kleinen linken Parteien haben als Bündnis Liberi e Uguali (Freie und Gleiche) bei der Parlamentswahl 2018 nur gut drei Prozent der Stimmen errungen, ihre wenigen Abgeordneten sind in der Frage der Zusammenarbeit mit dem PD uneins. Der Movimento 5 Stelle zerfällt, entgegen seiner post­ideologischen Selbstdarstellung, in zwei Lager: Ein Teil der Anhängerschaft ist zu den rechten Parteien abgewandert, der andere unterstützt eine Zusammenarbeit mit dem PD. Beppe Grillo, der Mitgründer des M5S, ist darum bemüht, die Partei unter dem Management des gestürzten Ministerpräsidenten Conte stärker auf umweltpolitische Themen auszurichten.

Für die Tage nach Ostern ist eine tiefgreifende Umstrukturierung der Organisation angekündigt: Die M5S-Abgeordneten dringen auf Unabhängigkeit von dem Webunternehmer ­Davide Casaleggio. Dieser übt als Sohn des Mitgründers des M5S, Gianroberto Casaleggio, sowie als Besitzer einer Stiftung, die sowohl die Partei wie deren Internetplattform finanziert, enorme Macht über den M5S aus. Dieser will sich nun eine konventionelle Parteistruktur geben, spekuliert wird auch über ein neues Logo und einen neuen Namen.

Der Regierungswechsel von Conte zu Draghi und dessen Auswirkungen auf PD und M5S lösten aufgrund der pandemiebedingten Einschränkungen keine soziale Mobilisierung aus. Nach dem Rücktritt Zingarettis tauchten zwar ­einige Führungsfiguren der im Herbst 2019 entstandenen sogenannten Sardinenbewegung zu einer symbolischen Besetzung der Parteizentrale des PD in Rom auf, doch ihr Auftritt war nicht mehr als ein Happening für die Presse. Aus dem zivilgesellschaftlichen Anti-Salvini-Protest der »Sardinen« hat sich keine außerparlamentarische Kraft entwickelt, die den PD zu einem Mitte-links-Bündnis gedrängt hätte.

»Piazza Grande« ist nur noch eine nostalgische Erinnerung. Dabei wächst sich 100 Jahre nach der Gründung des PCI aufgrund der Covid-19-Krise Armut zu einem Massenphänomen aus. Anfang März zählte das italienische Statistikamt über fünfeinhalb Millionen Menschen, die in absoluter Armut leben: das sind knapp zehn Prozent der italienischen Bevölkerung.