Vom Jordan bis nach Hanau
»Wir fordern eine Welt, in der nicht nur Menschen in Palästina vom Fluss bis zum Meer, sondern alle Menschen überall frei von siedlungskolonialistischer Unterdrückung, Apartheid, Ausbeutung und Patriarchat leben können.« Dieser Satz, der auf die antizionistische Parole »From the river to the sea, Palestine will be free« anspielt, ist nicht etwa bei einer der üblichen antiisraelischen Demonstrationen gefallen: Zum Jahrestag des Anschlags von Hanau äußerte ihn die Gruppe »Palästina spricht NRW« auf einer Gedenkveranstaltung im Kölner Stadtbezirk Nippes. Die ebenfalls dort auftretende Jugendorganisation der stalinistischen türkischen Partei Marksist Leninist Komünist Parti, Young Struggle, erwähnte Gaza als Musterbeispiel für die Unterdrückung durch Kapitalismus und Kolonialismus. Was aber hat die »Befreiung« Palästinas mit dem Gedenken an jene Menschen zu tun, die ein rechtsextremer Attentäter am 19. Februar 2020 ermordete?
Immer wieder versuchen antiimperialistische und vorgeblich »propalästinensische« Gruppen, antirassistische Veranstaltungen zu vereinnahmen. Auf Kundgebungen regionaler migrantischer Antifagruppen gerieren sie sich als Bündnispartnerinnen und schüren in ihren Redebeiträgen israelbezogenen Antisemitismus. Nicht überall gelingt die Abgrenzung der übrigen beteiligten Gruppen so gut wie in Frankfurt am Main im Oktober vergangenen Jahres. Bei einer Demonstration gegen die verheerenden Bedingungen im griechischen Geflüchtetenlager Moria hatte eine Vertreterin der Gruppe »Free Palestine FFM« in ihrem Redebeitrag den Bundestagesbeschluss gegen die Boykottkampagne BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) kritisiert und mit dem Aufruf »Yallah Intifada« geendet; im Laufe der Demonstration durch die Innenstadt waren Palästina-Flaggen geschwenkt und es war mehrfach gefordert worden, Palästina vom Jordan bis zum Mittelmeer zu »befreien«. Unter anderem die Seebrücke Frankfurt, Fridays for Future Frankfurt und das Bündnis Migrantifa Hessen distanzierten sich daraufhin deutlich von Israelhassern (Unlearning Antisemitism).
Auf Kundgebungen regionaler migrantischer Antifagruppen gerieren sich antiimperialistische Gruppen als Bündnispartnerinnen und schüren in ihren Redebeiträgen israelbezogenen Antisemitismus.
Die Gedenkveranstaltung im Kölner Stadtbezirk Nippes am 19. Februar unter dem Motto »Ein Jahr nach Hanau – Erinnern heißt Kämpfen« wurde neben den zwei bereits genannten Gruppen unter anderem von Migrantifa NRW, Black Lives Matter Köln und Panthifa organisiert. In ihrem Redebeitrag stilisierte »Palästina spricht NRW« den Kampf gegen Israel zu einem allgemeinmenschlichen, während der Anschlag von Hanau zur verzerrten Illustration der Probleme im »Nahen Osten« herhalten musste. Ein Facebook-Post des Rheinischen antifaschistischen Bündnisses gegen Antisemitismus analysierte, dass die Gruppe Young Struggle den strukturellen Rassismus einerseits zum »Genozid« stilisiere und andererseits diesen Rassismus zugleich als »Instrument der herrschenden Klasse« verharmlose.
Die auf der Homepage von Young Struggle veröffentlichte Zurückweisung der Kritik folgt einem bekannten Muster: Die von den Kritikern vorgebrachten Vorwürfe des Antisemitismus und der Instrumentalisierung des Gedenkens seien selbst antisemitisch – denn wer die »Befreiung« Palästinas »vom Fluss bis zum Meer« mit einem »Aufruf zur Vernichtung Israels« gleichsetze, offenbare ein Verständnis, wonach die »›israelische‹ Staatsideologie ganz wesentlich die Eigenschaften aller jüdischen Menschen« bestimme. Es ist die gleiche Verteidigung, mit der Antisemiten behaupten, wer Krakendarstellungen des Finanzkapitals für antisemitisch halte, bringe die Konnotation selbst hervor – als läge diese Verbindung allein im Auge des Betrachters und habe keine konkrete geschichtliche Basis. Die Gruppe Migrantifa NRW wertete auf ihrem Twitter-Kanal die Kritik als ein »weiteres Beispiel von eurozentrischer Deutungshoheit« und solidarisierte sich »klar und deutlich« mit den beiden Gruppen.
Mit etwas mehr Problembewusstsein, aber desaströser Konfliktbewältigung reagierte die Migrantifa Stuttgart, als die Jüdische Studierendenunion Württemberg (JSUW) ihr mitteilte, bei der dortigen Gedenkkundgebung nicht mit Young Struggle auf einer Bühne stehen zu wollen. Die Migrantifa Stuttgart lud daraufhin Young Struggle aus. In einer auf Facebook veröffentlichten Stellungnahme der JSUW heißt es, dass die Migrantifa Stuttgart daraufhin Drohungen erhalten habe, unter anderem sei eine Gegendemonstration angekündigt worden. Schließlich wurde auch die JSUW ausgeladen, weil – so gab die JSUW die Begründung wieder – für die Organisatorinnen und Organisatoren das Gedenken an die Opfer des Anschlags von Hanau im Mittelpunkt stehen sollte und aus Gründen des Selbstschutzes. »Nun werden weder Young Struggle noch wir an der Kundgebung teilnehmen. Das bedeutet aber, dass wir dafür bestraft worden sind, auf Antisemitismus aufmerksam gemacht zu haben«, schreibt die JSUW.
In einer gemeinsamen Stellungnahme von Young Struggle und der Föderation der Arbeitsmigrantinnen und -migranten in Deutschland (AGIF), die ebenfalls ausgeladen wurde, hieß es, dass es »nichts als Heuchelei und Spaltung innerhalb der antirassistischen und antifaschistischen Bewegung« sei, wenn man der Opfer von Hanau gedenke und zugleich die »Besatzungs- und Vernichtungspolitik von Israel« verteidige. »Für uns ist klar: Zionistische und imperialistische Politik stehen im Widerspruch zu jeglichem antifaschistischen Widerstand.« Der Verein Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost, 2019 geehrt mit dem Göttinger Friedenspreis (Zweifelhafte Bündnisse), sprach in einer Stellungnahme von einer Spaltung der Linken und belehrte die JSUW, »dass die Unterstützung zionistischer Politik und Ideologie eine Unterstützung von Rassismus« darstelle.
Auch auf Gedenkveranstaltungen, die vor einem halben Jahr stattgefunden hatten, war es zu ähnlichen Szenen gekommen. In Münster sprach die Gruppe Palästina Antikolonial darüber, die Bundesrepublik sei »verbündet mit einer imperialistischen, rassistischen und neokolonialen Allianz, die es erst ermöglicht, uns Palästinenserinnen und Palästinenser unsere Rechte auf Freiheit, Gleichberechtigung und Selbstbestimmung abzusprechen«. Die linksradikale Gruppe Eklat Münster schrieb, dass es bei den Auseinandersetzungen letztlich »um Hegemoniekämpfe der radikalen Linken« gehe.
Im August vergangenen Jahres trat in Wien bei einer von der Gruppe Migrantifa Wien organisierten Gedenkveranstaltung zu Hanau die BDS-Bewegung in Erscheinung. Bini Guttmann, der Präsident der European Union of Jewish Students, berichtete in der Jüdischen Allgemeinen, dass BDS den Verband Jüdische österreichische Hochschülerinnen vor der Veranstaltung als rassistisch bezeichnet und mit der rechtsextremen türkischen Organisation »Graue Wölfe« verglichen habe, um zu skandalisieren, dass eine Vertreterin der Studierendengruppe dort eine Rede halten sollte. »Bei der Demonstration selbst positionierte sich BDS fahnenschwenkend direkt vor der Bühne. Nachdem die Organisatoren BDS aufgefordert hatten, ihre Fahnen zu entfernen oder die Kundgebung zu verlassen, eskalierte die Situation«, schrieb Guttmann.
Die jüngsten Fälle und die der vergangenen Monate zeigen, dass es den zahlenmäßig relativ kleinen israelfeindlichen und antisemitischen Gruppen gelingt, antifaschistische Allianzen zu hintertreiben. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit versuchen sie, ihren antiisraelischen Fanatismus anderen Gruppen zu oktroyieren. Wer nicht mitzieht, und sei es auch nur, indem er oder sie auf den eigentlichen Anlass des Zusammentreffens verweist, muss sich vorwerfen lassen, wie es stereotyp heißt, »antipalästinensischen Rassismus« zu reproduzieren, durch »antideutsche Propaganda« manipuliert und eingeschüchtert zu sein oder zu versuchen, Antirassistinnen zu »silencen« (Denglisch für: »zum Schweigen bringen«).