Im Gespräch mit Aaron Benanav, Wirtschaftshistoriker, über die Automatisierung, Wirtschaftswachstum und überflüssige Arbeitskräfte

»Karl Marx ist ein Theoretiker der Deindustrialisierung«

In früheren Zeiten hat das Wirtschaftswachstum den durch höhere Produktivität bewirkten Arbeitsplatzverlust kompensiert. In seinem Buch »Automation and the Future of Work« geht Aaron Benanav der Frage nach, warum das nicht mehr der Fall ist.
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In Ihrem Buch »Automation and the Future of Work« geht es unter anderem darum, wie die Nachfra­ge nach Arbeitskraft erzeugt wird und welche Folgen mangelnde Nachfrage hat. Können Sie das etwas ausführen?

Etwas vereinfacht kann man sagen: Wenn die Produktivität steigt, ein Arbeiter also mehr in einer Stunde produziert, werden Arbeitsplätze vernichtet. Wenn hingegen die Wirtschaft wächst, entstehen Arbeitsplätze. Diese Faktoren sind aus dem Gleichgewicht geraten. Es werden mehr Arbeitsplätze vernichtet als erzeugt. Dies drückt sich in mangelnder Nachfrage nach Arbeitskräften, Unterbeschäftigung und wachsender Ungleichheit aus. Die Theoretiker der Automatisierung erklären dies mit der technologischen Entwicklung, die die Produktivität steigere und damit Arbeitsplätze vernichte. Das ist aber falsch, wie ein Blick in die Geschichte zeigt. Von den fünfziger bis in die siebziger Jahre nahm die Produktivität viel schneller zu. Nur wuchs die Wirtschaft noch stärker.

»Die Krise wird die heutigen Trends beschleunigen: Die unsicheren Sektoren expandieren, die Ungleichheit wächst, die Bereiche mit niedriger Produktivität werden größer.«

Derzeit ist das Wirtschaftswachstum so schwach, dass es nicht mal mehr das verlangsamte Produktivitätswachstum kompensieren kann. Das lässt sich statistisch belegen. Es gibt aber Gründe, warum die Auffassung dominant ist, dass es sich um eine technologische Entwicklung handele: Die Lösung dafür wäre viel einfacher. Ein schwaches wirtschaftliches Wachstum hingegen stellt ein deutlich ernsteres Problem dar, dessen Lösung tiefgreifende soziale Veränderungen erfordert.

Was ist der Grund für das langsame wirtschaftliche Wachstum?

Global betrachtet werden Lohnabhängige aus der Industrie verdrängt, obwohl viele Länder arm und kaum industrialisiert sind. Der historische Trend hat sich damit umgekehrt. Lange wurden Arbeiter aus wenig produktiven Tätigkeiten in die Industrie gesogen, der Strukturwandel beschleunigte das Wachstum. Die Verdrängung verhindert nun auch, dass nach einer starken Krise die Wachstumsmaschine wie früher anläuft und es zu Vollbeschäftigung kommt.

Warum werden Menschen aus der Industrie verdrängt?

Das ist eine komplexe Frage, auf die ich keine fertige Antwort habe. Karl Marx war in meinen Augen ein Theoretiker der Deindustrialisierung. Er hat einen Wendepunkt vorausgesehen, an dem die Beschäftigung im verarbeitenden Gewerbe nicht mehr zunimmt. Arbeiter werden dann in Branchen verdrängt, die unproduktiv oder dem Kapital bloß formell subsumiert und wenig produktiv sind. Erklärungen dafür versuchen konkurrierende marxistische Theorien über langfristige Trends zu bieten, aber auch nichtmarxistische Autoren haben interessante Ansätze formuliert.

Es gibt eine ganze Reihe von Statistiken wie die Erwerbslosenquote, die Auskunft über den Arbeitsmarkt ­geben. Kann man das Phänomen der überschüssigen Bevölkerung in Zahlen ausdrücken?

Die Erwerbslosenquote wurde in den vierziger Jahren definiert, damit Staaten den Überschuss an Arbeitskräften messen können; dabei erfasst sie längst nicht alles. Man wollte klare Kategorien schaffen und die Erfahrung normalisieren, ohne Arbeit zu sein. Als sich das Wirtschaftswachstum ab den siebziger Jahren aber abschwächte und nicht mehr so rasch neue Arbeitsplätze entstanden, bauten viele Regierungen Schutzbestimmungen ab, die die Arbeitsverhältnisse regulierten, und reduzierten die Arbeitslosenhilfen. Das führte dazu, dass die Kategorien wieder stärker verschwammen. Damit näherte sich die Welt wieder jener von Marx an, in der es unterschiedliche Formen der Überbevölkerung gab. Das Phänomen in einer einzigen Zahl zu fassen, ist unmöglich.

Was bedeutet die Kategorie des Surplus-Proletariats oder der Überbevölkerung bei Marx? Welche Missverständnisse muss man vermeiden?

Marx verstand das Surplus-Proletariat immer im Verhältnis zum Kapital, darum schrieb er auch von der relativen Überbevölkerung. Das ist ein wichtiger Unterschied zu Theorien der absoluten Überbevölkerung, wie sie etwa der Ökonom Thomas Malthus formuliert hat. Die Vorstellung, es gebe zu viele Menschen, kritisierte Marx scharf. Eine Gefahr besteht zudem in der Auffassung, die Überschussbevölkerung sei ganz aus der Ökonomie ausgeschlossen. Niemand kann ohne Einkommen überleben, und so finden Menschen meist irgendwie Arbeit – aber häufig unter prekären Bedingungen. Die Lebensbedingungen der Betroffenen werden systematisch und dauerhaft unter dem gesellschaftlichen Standard gehalten, was auf das Lohnniveau drückt und den Profit erhöht.

Marx bezeichnete das unterste Segment der »industriellen Reservearmee« als stockende Überbevölkerung. Derzeit arbeiten diese Menschen unter einem sogenannten Verlagssystem. Sie leisten zum Beispiel produktive Arbeit zu Hause und stehen an vielen Orten der Welt am Anfang der Lieferketten. Diese Gruppe wird beständig größer. Sie wächst über die Funktion hinaus, die Löhne zu drücken.

Marx bestimmte drei Formen der relativen Überbevölkerung: flüssig, latent und stockend. Sind diese Kategorien im 21. Jahrhundert noch gültig?

Zu Marx’ Zeiten gab es den Sozialstaat noch nicht, dieser prägt die Kategorien stark. Allerdings habe ich während der Untersuchung der Arbeitsmärkte des 20. Jahrhunderts festgestellt, dass sie unter anderen Begriffen immer wieder auftauchen. So zeigt sich die ­latente Überbevölkerung in der Existenz von Landarbeitern, die immer mit einem Fuß im Pauperismus stehen und zugleich von der Stadt abhängig bleiben. Das sind etwa jene überschüssigen Arbeitskräfte, die der bekannte Entwicklungsökonom Arthur Lewis beschriebt. Die flüssige Überbevölkerung umfasst heute die offiziell Arbeitslosen. Die stockende Überbevölkerung schließlich kehrt im 20. Jahrhundert als das zurück, was man mittlerweile den informellen Sektor nennt.

Sie beschreiben, wie die mangelnde Nachfrage nach Arbeitskräften mit der Zeit weniger zu Arbeitslosigkeit als zur Unterbeschäftigung führt: Menschen arbeiten weniger, sind überqualifiziert oder befristet angestellt. Was sind die Folgen?

Menschen in Unterbeschäftigung müssen niedrigere Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen akzeptieren. Dieses Phänomen haben Marxisten als Verelendung bezeichnet. In der Öffentlichkeit wird das etwa als sinkender Anteil der Löhne am Nationaleinkommen diskutiert. Wenn Arbeiter für niedrigere Löhne Dienstleistungen verrichten, können diese billiger angeboten werden, was die Beschäftigung erhöhen kann. Das Einkommen dieser Lohnabhängigen bleibt aber generell hinter dem Wachstum der Gesamtwirtschaft zurück. Dies drückt den Anteil der Löhne am Nationaleinkommen und verschärft die Ungleichheit. Unterbeschäftigung und Ungleichheit sind eng miteinander verbunden.

Was sehen Sie in den nächsten Jahren auf uns zukommen?

Die Situation vieler Arbeiter in unsicheren Verhältnissen wird sich weiter verschlechtern. Die Krise wird die heutigen Trends beschleunigen: Die unsicheren Sektoren expandieren, die Ungleichheit wächst, die Bereiche mit niedriger ­Produktivität werden größer. Seit der Großen Depression der dreißiger Jahre wurden nicht mehr so viele Länder von einer Krise getroffen wie in der derzeitigen Pandemie. Aber fast 90 Prozent der Kompensationsmaßnahmen, der sogenannten Rettungspakete, wurden in den reichen Ländern beschlossen. Es wird eine große Frage sein, ob in diesen Ländern nun viele zombie jobs ­geschaffen wurden – Arbeitsplätze, die etwa mit Kurzarbeitergeld staatlich ­finanziert sind, aber auf längere Sicht verschwinden werden. In großen Teilen der Welt gibt es trotz der dramatischen Situation kaum Hilfe. In jenen Ländern wird die Krise besonders bitter und langanhaltend sein.

Welche Rolle spielt die Covid-19-Pandemie?

Die vergangenen Jahrzehnte waren von starker Unterinvestition geprägt. Die Pandemie wird dies noch verschlimmern, was die Wachstumsraten in diesem Jahrzehnt niedrig halten wird. An dessen Ende werden wir dann bereits einige erhebliche Auswirkungen des Klimawandels erleben. Wir steuern auf eine sehr beängstigende Zukunft zu. Auch haben Staaten im stagnierenden Kapitalismus weniger Kapazitäten, um Probleme zu lösen. Das fördert ein zerstörerisches politisches Management, wie es sich bereits in der Pandemie zeigt. Vor allem in Hinblick auf die globale Erwärmung ist das fatal. Es scheint, als würde sich das Motto »nach mir die Sintflut« durchsetzen.

Sehen Sie dennoch Licht am Ende des Tunnels?

Die große Frage ist, ob es zu proletarischer Gegenwehr kommt. Eine Garantie dafür gibt es nicht, aber wir haben bereits in den zehner Jahren eine starke Zunahme der Revolten erlebt, insbesondere direkt vor der Pandemie. Das stimmt mich hoffnungsvoll. Damit ist aber längst nicht ausgemacht, wie sich diese Kämpfe entwickeln und ob sie auf einen Bruch mit dem Kapitalismus zusteuern.

Vielen Menschen ist die Vorstellung von einer besseren Welt verlorengegangen. Darum lese ich die Theoretiker der Automatisierung mit ihren Utopien mit großem Interesse. Ihre Grundannahmen halte ich aber für falsch, weshalb ich an einer realistischeren Idee von einer besseren Gesellschaft arbeite. Vielleicht hilft das, die Hoffnung zu reaktivieren.

 

Aaron Benanav ist Wirtschaftshistoriker und Sozial­theoretiker an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er befasst sich insbesondere mit der globalen Wirtschaftsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert, wirtschaftlicher Entwicklung, Arbeitsmarktdynamik, Arbeitslosigkeit und Ungleichheit. In seinem neuen Buch »Automation and the Future of Work«, das kürzlich bei Verso erschienen ist und derzeit für Suhrkamp übersetzt wird, konstatiert er, dass dem Kapital immer mehr überflüssige Arbeitskraft gegenüberstehe. Schuld daran sei aber nicht, wie gemeinhin behauptet, die Automatisierung, sondern das schwache Wirtschaftswachstum.