Das Wirtschaftsministerium soll ein Gutachten zum Kohleausstieg zurückgehalten haben

Gutachten braucht Weile

Hat das Bundeswirtschaftsministerium ein Gutachten zum Braunkohleausstieg zurückgehalten und die politische Entscheidungen manipuliert? Die Opposition und Klimaschützer erheben schwere Vorwürfe.

Mitte Dezember veröffentlichte das Beratungsunternehmen Büro für Energiewirtschaft und technische Planung GmbH (BET) auf seiner Website ein im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) erstelltes Gutachten. Es trägt den sperrigen Titel »Ermittlung von Folgekosten des Braunkohletagebaus bei einem gegenüber aktuellen Braunkohle- bzw. Revierplänen veränderten Abbau und Bestimmung der entsprechenden Rückstellungen«, einige weitere Unternehmen waren an der Arbeit beteiligt. Als kurzer Vermerk ist auf der Seite zu finden: »Die inhaltlichen Arbeiten an diesem Gutachten wurden Ende November 2019 abgeschlossen.«

Was auf den ersten Blick nach einer Formalie aussieht, stellt nach Ansicht von Oliver Krischer, dem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen aus dem Wahlkreis Düren, in dem der Tagebau Hambach liegt, einen handfesten Skandal dar. Denn in der Zeit zwischen der inhaltlichen Fertigstellung des Gutachtens und dessen Veröffentlichung fiel eine energie- und klimapolitisch folgenschwere Entscheidung. Am 3. Juli verabschiedeten Bundestag und Bundesrat das Gesetz zur Reduzierung und zur Beendigung der Kohleverstromung. Dieses soll, basierend auf den Empfehlungen der nach der Bundestagswahl 2017 gebildeten Kommission »Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung«, das Ende der Nutzung von Braunkohle in Deutschland regeln. In Paragraph 48 findet sich die Feststellung: »Die energiepolitische und energiewirtschaftliche Notwendigkeit und der vordringliche Bedarf zur Gewährleistung einer sicheren und zuverlässigen Energieversorgung wird für den Tagebau Garzweiler II festgestellt.« Diese Formulierung sichert dem Energiekonzern RWE die geplante Fortführung dieses Tagebaus samt der Zerstörung der Dörfer Keyenberg, Kuckum, Ober- und Unterwestrich und Berverath rechtlich zu. Betroffene Einwohnerinnen und Einwohner hatten deshalb vor dem Bundesverfassungsgericht eine Beschwerde gegen das Gesetz eingelegt, die im November jedoch als unzulässig abgewiesen wurde. Der Frankfurter Rundschau zufolge laufen noch weitere Klagen gegen die Abriss- und Rodungsmaßnahmen.

»Das Wirtschaftsministerium hat das Gutachten verschwinden lassen, weil es Kohlekonzernen nicht gepasst hat.« Ronja Weil, Pressesprecherin von »Ende Gelände«

Krischer zufolge besteht der Skandal darin, dass diese Regelung vom Bundestag beschlossen wurde, ohne dass die Abgeordneten das Gutachten des BET kannten. Das Wirtschaftsministerium habe dessen Veröffentlichung verschleppt. Im Gutachten liegen den Berechnungen darüber, welche Kosten der Ausstieg aus der Braunkohle langfristig verursacht, zwei verschiedene Szenarien zugrunde. In einem wird ein Ausstieg skizziert, der den Erhalt der Dörfer um Garzweiler II ermöglichen könnte. In einer Pressemitteilung vom 16. Dezember wirft Krischer dem Bundeswirtschaftsministerium vor, das Gutachten vorsätzlich lange unter Verschluss gehalten zu haben. Ziel sei es gewesen, zu verhindern, dass dieses Szenario Gegenstand der öffentlichen Debatte über Wege aus der Braunkohleförderung werde. Dass das Bundeswirtschaftsministerium dieses Gutachten nicht vor der Verabschiedung des Kohleausstiegsgesetzes veröffentlicht habe, sondern erst Monate später und erst nach mehrfachen Anfragen, stellt für ihn eine »bewusste Desinformation des Parlaments und der Öffentlichkeit« dar.

In einer schriftlichen Stellungnahme auf Anfrage der Jungle World weist ­Beate Baron, eine Pressesprecherin des BMWi, den Vorwurf zurück, das Gutachten sei unterdrückt oder vorenthalten worden: »Das Gutachten wurde nicht unter Verschluss gehalten, sondern transparent veröffentlicht. Der Abnahmeprozess hat Zeit in Anspruch genommen.« Das Kohleausstiegsgesetz sei »das Ergebnis einer umfassenden Interessenabwägung«, die »Aspekte des Klimaschutzes ebenso wie Aspekte der Versorgungssicherheit« berücksichtige. Da der Hambacher Forst nicht gerodet werde, sei »Garzweiler der einzig verbleibende Tagebau, um die Kraftwerke im Rheinland zu versorgen«. Der Erhalt der Dörfer sei nur eine Vorannahme der Gutachter, nicht jedoch deren Ergebnis, entsprechende Schlussfolgerungen lasse das Gutachten nicht zu. Es sei zudem methodisch nur eingeschränkt verwertbar, da es ­einen anderen Ausstieg als den des Kohleausstiegsgesetzes zugrunde lege, so die Sprecherin. Allerdings beruht Krischers Vorwurf unter anderem gerade darauf, dass das Gutachten wegen der späten Veröffentlichung nicht zur politischen Diskussion über mögliche Wege des Ausstiegs habe beitragen können.

Auch das regelmäßig mit Aktionen zivilen Ungehorsams gegen die Braunkohleförderung protestierende Bündnis »Ende Gelände« kritisiert den Vorgang. Ronja Weil, Pressesprecherin der Organisation, sagte der Jungle World: »Das BMWi hat das Gutachten verschwinden lassen, weil es Kohlekonzernen nicht gepasst hat.« Wegen der »Klüngelpolitik« habe das Ministerium entschieden, das Gutachten nicht in die demokratische Auseinandersetzung einfließen zu lassen. Dies zeige erneut, dass »nicht nur der Klimaschutz, sondern auch der demokratische Prozess im kapitalistischen Wirtschaftssystem gestört beziehungsweise verunmöglicht wird«.

Krischer schreibt in einer Pressemitteilung: »Die Enteignung und Vertreibung der Menschen wird spätestens bei den Gerichtsverfahren gestoppt werden.« »Ende Gelände« baut hingegen eher auf Widerstand an Ort und Stelle. So kündigt Weil an: »Wenn sie mit Abrissbaggern und Cops kommen, werden wir da sein und zusammen mit den Dorfbewohnerinnen für den Erhalt der Häuser kämpfen.«

Noch können sich die Grünen ohne Einschränkungen auf die Seite der Proteste gegen die Fortführung des Tagebaus stellen. Anders sähe es wahrscheinlich aus, sollte Deutschland ab Herbst von einer schwarz-grünen ­Koalition regiert werden. Ob dann noch Verlass auf die Grünen wäre, erscheint nach den Erfahrungen mit den Protesten gegen den Autobahnbau im Dannenröder Wald mehr als zweifelhaft. Dort ließ die schwarz-grüne Landesregierung von Hessen die Rodung des Walds mit heftiger Polizeigewalt durchsetzen (Schneebälle gegen Wasserwerfer). Auch aus diesem Grund dürften viele Grüne darauf hoffen, dass Gerichte die Fortführung des Tagebaus von Garzweiler II und den Abriss von Keyenberg, Kuckum, Ober- und Unterwestrich und Berverath verhindern.