Mit Straßenblockaden protestiert die Opposition gegen die erneute Verschiebung der Wahlen in Bolivien

Machtprobe in Bolivien

Mit Straßenblockaden protestieren Gewerkschaften und die »Bewegung zum Sozialismus« des ehemaligen Präsidenten Evo Morales gegen die erneute Verschiebung der Präsidentschaftswahlen.

Die Warnung war deutlich: Sollten die Demonstranten die Straßenblockaden nicht aufheben, würden Polizei und Armee dafür sorgen, dass Hilfslieferungen für Krankenhäuser passieren können. Sie erfolgte am Donnerstag voriger Woche auf einer Pressekonferenz in Cochabamba und der Oberbefehlshaber der Armee, Sergio Orellana, sowie der Polizeigeneral Rodolfo Montero machten einen entschiedenen Eindruck. Vieles deutet derzeit auf eine neuerliche Konfrontation zwischen Interimsregierung und Opposition hin, die sich seit der Vereidigung der Interimspräsidentin Jeanine Áñez unversöhnlich gegenüberstehen.

Die politisch motivierte Anklage von Anfang Juli gegen Evo Morales wegen Terrorismus hat die Lage weiter zugespitzt.

Áñez zog am 14. November 2019 mit der Bibel in der Hand in den Regierungssitz ein, um die Regierungsgeschäfte für drei bis sechs Monate zu übernehmen. »Sie hat ein Mandat, um die Präsidentschaftswahlen, die erst im März, dann im Mai, später im September und nun am 18. Oktober stattfinden sollen, zu organisieren – nicht mehr, aber sie scheint es systematisch ausbauen zu wollen«, sagt Freddy Mamani. Der Architekt lebt in El Alto, der über La Paz gelegenen, am schnellsten wachsenden Stadt Boliviens, und wirft der Interimsregierung sowie dem Wahlgericht vor, die Wahlen zu verzögern. »Das zentrale Argument sind die Infektionsrisiken. Aber warum gilt das Argument nicht, wenn die Menschen am Bankschalter oder vor den Krankenhäusern Schlange stehen?« fragt Mamani. Das sei ein Widerspruch, moniert der drahtige Mann, der der Interimsregierung kritisch gegenübersteht.

Aus gutem Grund. »Sie hat ihr Mandat systematisch verletzt, Politik gemacht und Grundsatzentscheidungen getroffen, auch die Zahl der Korruptionsskandale ist alarmierend«, konstatiert er. Ein Fall kann exemplarisch dafür stehen: der Kauf von Beatmungsgeräten in Spanien, bei dem der zuständige Gesundheitsminister Marcelo Navajas nicht nur die falschen Geräte orderte, sondern auch noch den dreifachen Preis zahlte. Navajas musste gehen, gegen ihn wird ermittelt, und der Fall hat das Image der Interimsregierung Áñez schwer beschädigt. 13 Korruptionsfälle hat die Tageszeitung La Razón aufgelistet, in einer von der Tageszeitung Página Siete in Auftrag gegebenen Umfrage bescheinigen 33 Prozent der Befragten der Regierung, korrupter zu sein als die Vorgängerregierung, 35 Prozent halten sie für genauso korrupt. Zudem attestieren 86 Prozent der Befragten der Regierung schlechte Arbeit bei der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie.

Viele Bolivianer befürchten, die Regierung wolle den Ressourcenreichtum des Landes privatisieren; Personalentscheidungen in den Bergbauministerien deuten darauf hin. Neben Erdgas und Industriemetallen verfügt Bolivien auch über immense Lithiumreserven. Ein deutsches Unternehmen unterzeichnete vor 18 Monaten einen Vertrag über deren Ausbeutung, der nach Protesten im November vorigen Jahres aufgekündigt wurde.

Die Hauptforderung der Demonstranten, die seit Anfang August Zufahrtsstraßen zu mehreren Städten blockieren, sind Präsidentschaftswahlen am 6. September und nicht – wie vom Wahlgericht vorgesehen – am 18. Oktober. Argumentiert wird mit dem hohen Infektionsrisiko, doch vor allem der MAS (Bewegung zum Sozialismus) und ihm nahestehende Organisationen wehren sich gegen die neuerliche Verschiebung. Sie hoffen darauf, Áñez und ihre Übergangsregierung endlich loszuwerden. Dafür stehen die Chancen nicht schlecht, denn der Kandidat der MAS, der ehemalige Wirtschaftsminister Luis Arce, führt die – allerdings mit Vorsicht zu genießenden – Um­fragen an.

Problematisch sei, dass Áñez selbst bei den Wahlen kandidiert und in ihren Reden die Gräben eher vertieft, statt wie angekündigt für die Befriedung des Landes zu sorgen, warnt der Politikwissenschaftler Jorge Richter im Interview mit der Tageszeitung La Razón. Ein verbreiteter Vorwurf an Áñez, genauso wie der, dass der Einfluss der USA in Bolivien unter ihrer Regierung weiter gewachsen sei. Angesichts rapide schwindender Zustimmung und einer kleinen Parteibasis ist derzeit auch recht klar, dass Áñez kaum Interesse hat, die Wahlen schnell abzuhalten. Sie könnte eher die Zeit nutzen, um weitere Grundsatzentscheidungen zu treffen, wie die bereits geplante Zulassung von genmanipuliertem Saatgut oder den Austritt aus regionalen Wirtschafts- und Sozialbündnissen wie der Bolivarianischen Allianz für die Völker unseres Amerika (Alba). Beide Entscheidungen sind mit dem politischen Mandat der Interimsregierung nicht zu vereinbaren.

Das sorgt für Unmut vor allem bei der indigenen Bevölkerung, die mehrheitlich zum MAS tendiert. Die meisten Indigenen fühlen sich von der Interimsregierung betrogen, wollen »ihre« MAS-Regierung wieder – trotz durchaus vorhandener Kritik am früheren Präsidenten Evo Morales und seinem Kabinett. Korruptionsfälle, aber auch fragwürdige Wirtschaftsprojekte wie der geplante Bau der zwei Megastaudämme Chepete und El Bala mit chinesischen Krediten, die Bolivien zum Stromlieferanten für die Region machen sollten, sind dafür gute Beispiele. »Die sind ökologisch nicht vertretbar, waren öko­nomisch nicht tragbar und es gab noch nicht einmal Verträge mit den poten­tiellen Abnehmern«, kritisiert Pablo Solón, der Direktor der Umweltstiftung Solón und einst UN-Botschafter Boli­viens. Er sorgt sich seit Monaten über die zunehmende Polarisierung. Die politisch motivierte Anklage von Anfang Juli gegen Morales wegen Terrorismus hat die Lage weiter zugespitzt.

Die Straßenblockaden könnten wie im November den Anlass liefern, die Situation eskalieren zu lassen. In Áñez’ Rede zum Unabhängigkeitstag Boliviens am 6. August fanden sich jedenfalls kaum versöhnliche Töne. Freddy Mamani hofft weiter auf den frühen Wahltermin. »Nur die Wahlen und eine wirklich legitimierte Regierung können für Ruhe sorgen. Ich glaube, dass das Volk gewinnen wird«, sagt er etwas verklausuliert.