Antiziganistische Stimmungsmache im Fall eines Covid-19-Ausbruchs in Göttingen

Der Sündenbock im Hochhausblock

Die Stadtverwaltung und einige Medien machten mehrere Großfamilien für den Ausbruch von Covid-19 in einem Hochhauskomplex in Göttingen verantwortlich. Das Roma Antidiscrimination Network verurteilte das als rassistische Stimmungsmache.

Hoch und breit erhebt sich das Iduna-Zentrum am Rande der Göttinger Innenstadt. Um dem 18stöckigen Hochhauskomplex, gelegen zwischen Universität und Bahnhof, in ästhetischer Hinsicht etwas abzugewinnen, bedarf es wohl eines gewissen Faibles für die brutalistische Architektur der siebziger Jahre. Das 1975 fertiggestellte Gebäude galt anfänglich als Prestigeprojekt, die 400 Appartements waren schnell vermietet. Doch mit dem Glanz ist es längst vorbei. Die meisten Göttinger ignorieren das Gebäude in der Regel routiniert, der Anblick ist hinlänglich bekannt.

Alle paar Monate kommt ein Fernsehteam oder ein Reporter eines überregionalen Magazins vorbei, um am Sozialdrama Iduna-Zentrum weiterzuschreiben: Von gestrandeten jugoslawischen Bürgerkriegsflüchtlingen und deren Familien, Alkoholikern, Junkies und gescheiterten Existenzen ist dann die Rede, von der Geschichte des Hauses, einst ein Postkartenmotiv für Progressive, heutzutage überwiegend von Sozialhilfempfängern bewohnt; vom verlassenen Schwimmbad im Keller und einer bizarren Posse, bei der die Produzenten des Göttinger Tatorts vor ihrem Dreh Müll vor dem Haus abladen ließen, um einen möglichst heruntergekommenen Eindruck zu erwecken.

In den vergangenen drei Wochen wurden diese Klischees einmal mehr hervorgekramt. Denn das Iduna-Zentrum ist zu einem sogenannten Corona-Hotspot in der beschaulichen Universitätsstadt geworden. Wie medial schnell kolportiert wurde, sollten dort einzelne Infizierte die geltenden Quarantäneregeln nicht beachtet und weitere Personen angesteckt haben. Die Gesamtzahl der Infizierten sollte im niedrigen dreistelligen Bereich liegen. In Göttingen wurden deshalb die Schulen und einige Freizeiteinrichtungen erneut präventiv geschlossen.

Die Schuldigen waren schnell ausgemacht. Die Stadtverwaltung verbreitete folgende Geschichte: Zahlreiche Mitglieder von Großfamilien hätten während privater Feierlichkeiten zum muslimischen Zuckerfest für die Verbreitung des Virus gesorgt, deshalb müssten mit einigem Aufwand sämtliche Bewohner des Hauses getestet werden. Ungefähr 700 seien das, genau könne das aber niemand sagen. Als einige Hausbewohner versuchten, sich des umgehend einsetzenden Medienrummels zu erwehren und ein Kamerateam dabei mit Gemüse bewarfen, war das Bild des sozialen und infektiösen Schandflecks perfekt. »Drohgebärden vor laufenden Kameras«, titelte das Göttinger Tageblatt am 5. Juni und fügte als Unterzeile hinzu: »Ein Leben zwischen Quarantäne, Virustests und gegenseitigem Misstrauen«.

Als die erste Aufregung vorüber war und Bild eine Reportage über die »arabisch-albanischen Clans« im »Coronablock« veröffentlicht hatte, konnten dann die Bewohner des Iduna-Zentrums ihre Sicht der Dinge kundtun – wenn auch nicht mit der Reichweite der Sensationspresse. In einer online kursierenden Gegendarstellung kritisierten »betroffene Familien« aus dem Haus die »unkorrekte und unvollständige Berichterstattung«. Demnach sollen die besagten familiären Feiern niemals stattgefunden haben, vielmehr seien Verstöße gegen die Quarantänebestimmungen im Haus den Behörden frühzeitig angezeigt worden. Auch die Betreiber einer Göttinger Shisha-Bar, die ebenfalls zum »Corona-Hotspot« erklärt worden war, behaupteten, die Abstands- und Hygienevorschriften ordnungsgemäß durchgesetzt zu haben.

Unter der Überschrift »Hetze wegen Corona in Göttingen breitet sich aus« meldete sich auch das Roma Antidiscrimination Network (RAN) zu Wort. Es beklagte, durch die städtischen Stellungnahmen und die daraus resultierende einseitige Berichterstattung seien »Vorurteile und letztlich Rassismus« geschürt worden. Dabei hätten die betroffenen Bewohner des Iduna-Zentrums sehr verantwortungsvoll gehandelt. RAN zufolge wurden infizierte Familienmitglieder selbständig isoliert und von ihren Angehörigen mit dem Nötigsten versorgt.

Ein weiteres online kursierendes Schreiben eines Bewohners bestätigte das umsichtige Verhalten insbesondere der Roma-Familien. Der Bewohner bemängelte außerdem die Informationspolitik der städtischen Verantwortlichen: Er habe die neuesten Entwicklungen stets nur aus der Presse erfahren, sein Vertrauen in die örtlichen Behörden habe sich gravierend verschlechtert. Linke Gruppen in der Stadt solidarisierten sich mit den stigmatisierten Bewohnern. Das Hausprojekt »Goßlerstraße 17/17a« kritisierte, dass der »Brennpunkt« Iduna-Zentrum größere Aufmerksamkeit erhalte »als Coronaausbrüche in gutbürgerlichen Restaurants, in Logistik- und Schlachtbetrieben oder bei Zusammenkünften von christlichen Gläubigen«.

Mittlerweile wurden sämtliche Bewohner des Iduna-Zentrums auf das Virus getestet, etwa 80 Personen mussten sich in Quarantäne begeben. Die Infektionsrate ist unerwartet gering. Die Sozialdezernentin Petra Broistedt (SPD) bedauerte inzwischen ihre Wortwahl: »Ich habe von Großfamilien gesprochen, das war nicht gut.« Auf eine Anfrage der Jungle World antwortete das RAN: »Die betreffenden Menschen möchten aktuell keinen Kontakt mehr zur Presse. Sie möchten gerne ihre Ruhe haben. Das war sehr viel Stress in den letzten Wochen.«

Seit Anfang der Woche richtet sich die öffentliche Aufmerksamkeit in Göttingen ohnehin nicht mehr so stark auf das Iduna-Zentrum. In einem Hochhauskomplex an der Groner Landstraße wurden zwei Frauen positiv auf Sars-CoV-2 getestet. Die Behörden befürchten eine Massenansteckung in dem Gebäude, in dem etwa 700 Menschen wohnen. »Wir testen alle, die aus dem Haus kommen«, sagte ein Sprecher der Stadt Göttingen am Montag.