Die feindliche Übernahme des Solidaritätsbegriffs unter den Bedingungen der Pandemie

Solidarität muss politisch sein

Viele Solidaritätskampagnen sind kein Vorschein des Besseren, sondern nur die privat organisierte Verwaltung des Elends, ganz im Sinne des Neoliberalismus.

Mit Blick auf die Covid-19-Pandemie sprechen alle von der Notwendigkeit von Solidarität. Unter den gegenwärtigen Bedingungen bedeute Solidarität, allen »social distancing« zu ermöglichen, meinte Ruth Oppl . Marco Kammholz argumentierte, Solidarität müsse auch den Uneinsichtigen gelten.

 

»Hoch die pandemische Solidarität!« könnte der Schlachtruf gegen das Covid-19-Virus heißen. Aber spätestens wenn Dietmar Hopp, Linkspartei und die Gewerkschaft der Polizei unisono die »Stunde der Solidarität« ausrufen, sollte man skeptisch werden. Auch gibt es offensichtlich eine große Diskrepanz zwischen der angeblich überbordenden Solidarität und der Anzahl verfügbarer Klopapierrollen im Supermarkt. Und wer für Krankenhausangestellte und Kassiererinnen klatscht, damit aber nicht für bessere Bezahlung eintritt, sondern nur Dankbarkeit zeigen möchte, ist bloß zynisch, aber sicher nicht solidarisch.

Was also heißt Solidarität, wenn sie nun sogar im Magazin Cicero gefordert wird? Wenn die Bundesregierung »Jetzt zählt das Wir« zum Krisenmotto erhebt und Bundeskanzlerin Angela Merkel die Solidarität beschwört, sollte klar sein, dass damit nicht alle gemeint sind. Während man mit einem Riesenaufwand Hunderttausende mit deutschem Pass aus ihrem Urlaub und 80 000 osteuropäische Erntehelfer für der Deutschen liebstes Gemüse einfliegt, lässt die Bundesregierung zugleich Tausende von Geflüchteten in den griechischen Lagern zugrunde gehen, obwohl hierzulande Flüchtlingsunterkünfte leerstehen. So ist Merkels Anrufung der Solidarität gar nicht weit von der Kriegsrhetorik des französischen Präsidenten Emmanuel Macron entfernt. Es geht darum, das nationale Kollektiv im Kampf gegen einen äußeren Feind zusammenzuschweißen und es auf kommende Zumutungen einzustimmen. Dass diese kommen werden, davon muss man ausgehen, und daher ist die Frage, wie echte Solidarität aussehen könnte, gerade auch mit Blick auf die kommenden Krisen, durchaus eine wichtige.

Die sogenannte Zivilgesellschaft und auch viele linke Gruppen sind notwendigerweise bereits zur Praxis übergegangen. Es entstanden »Gabenzäune« für Obdachlose und Bedürftige, Nachbarschaftshilfen kümmern sich um Einkäufe für Angehörige von Risikogruppen, engagierte Menschen nähen Atemmasken für das Krankenhauspersonal. Täglich ein neues Crowdfunding, täglich Online-Lesungen, -Konzerte und -DJ-Sets, mit denen Geld für bedrohte Clubs, Kneipen, Theater oder Geflüchtete auf Lesbos gesammelt wird. Wer selber nicht viel hat, kann bei dieser Konkurrenz von Solidaritätskampagnen durchaus überfordert sein. Für viele sind diese Initiativen entscheidend, bisweilen sogar überlebenswichtig. Aber Solidarität ist mehr als Nothilfe und Hilfsbereitschaft, sie wird ihrem Namen erst gerecht durch den kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse.

Regierungen werden sich genau merken, welche Bereiche des Sozialstaats zukünftig der Eigenverantwortung der Bevölkerung überlassen werden können.

Ohne die Armut, den miesen Lohn, die dürftige Rente, die teure Miete, den Arbeits- und Profitzwang, den schlechten Zustand der Kinderbetreuung und des Gesundheitssystems et cetera wäre die Krise auf vielen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens keine. Der Auslöser der Krise, das Coronavirus, ist (nach allem, was wir wissen) nicht menschengemacht, seine Auswirkungen, und vor allem die Tatsache, dass es die Menschen und Gesellschaften auf der Welt in ganz unterschiedlichem Maße trifft, aber schon. Die Solidarität, die derzeit von Regierungen gefordert wird, bedeutet nichts anderes als die nationalistische »Wir sitzen alle im selben Boot«-Rhetorik, wobei derzeit besonders deutlich wird, warum dieser Metapher die Realität keineswegs entspricht. Wer hat ein Zuhause? Wer hat Zugang zu Gesundheitsversorgung? Wer muss unter erhöhtem Infektionsrisiko weiter arbeiten gehen und wer kümmert sich um die Kinder und die Alten? Wer wird auf der Straße von der Polizei kontrolliert?

Im derzeitigen Ausnahmezustand tritt das Klassenverhältnis offen zutage, struktureller Rassismus und geschlechtsspezifische Diskriminierung stecken auch in jeder Statistik zur Coronakrise. Selbstorganisation zur Unterstützung der von der Krise am stärksten betroffenen Gruppen ist ohne Frage das Gebot der Stunde. Sie verweist aber nicht automatisch auf »die Möglichkeit einer besseren Zukunft«, wie Raul Zelik in einem Beitrag für die WOZ schrieb, denn die bessere Zukunft wird erst dann zur Möglichkeit, wenn die Strukturen verändert werden, die für diese Ungleichheit sorgen. Solidarität braucht nicht nur Empathie, sondern auch Bewusstsein für die Ursachen des gesellschaftlich produzierten Leides. Und den Willen, diese zu überwinden.

Das Dilemma existiert nicht erst seit Beginn der Pandemie. In vielen Bereichen haben zivilgesellschaftliche Initiativen die Drecksarbeit übernommen, derer sich die Staaten entledigt haben. Da die gesellschaftliche Macht dieser Initiativen zu gering ist, um den Staat zu zwingen, dessen eigenem Anspruch als Hüter von zumindest einem Mindestmaß an sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit gerecht zu werden, nimmt man diese Aufgabe selbst in die Hand. Das ist nicht falsch, aber auch kein leuchtendes Beispiel der Selbstermächtigung. Es ist eher ein Zeichen eigener Ohnmacht. Zum Problem wird es, wenn dieser Umstand in Vergessenheit gerät. So wird mittlerweile, wenn es um zivilgesellschaftliche Seenotrettungsmissionen geht, nur bemängelt, dass sie bei ihrer humanitären Arbeit behindert oder gar verklagt werden. Dabei ist der Skandal bereits ihre Existenz an sich, ihre Notwendigkeit, denn sie übernimmt Aufgaben, zu denen sich Staaten einmal selbst verpflichtet hatten. Thomas Gebauer, Sprecher der Stiftung Medico International, zitierte, auf diese Art sozialer Initiativen angesprochen, vergangenes Jahr in einem Interview im Freitag die dem Aufklärer Johann Heinrich Pestalozzi zugeschriebene Aussage: »Wohltätigkeit ist das Ersaufen des Rechts im Mistloch der Gnade.« Es müsse darum gehen, durch soziale Kämpfe und politischen Druck den Rechtsanspruch für alle durchzusetzen, so Gebauer.

Wenn man sich also nun abseits des Staates organisiert, um die Folgen der Politik dieses Staates und die brutalen Auswirkungen der kapitalistischen Ordnung abzumildern, ist das noch lange nicht der Beginn einer neuen Form gesellschaftlicher Organisation. Und man darf auch nicht der Illusion erliegen, dass diese kollektive Erfahrung von alleine politisches Bewusstsein schafft. Am »Flüchtlingssommer« und der »Willkommenskultur« lässt sich das nachzeichnen. Es war die antirassistische Szene, die mit ihren ­Slogans und ihrer Infrastruktur den Boden ­bereitet hat, auf dem sich damals innerhalb kürzester Zeit massenhaftes zivilgesellschaftliches Engagement entwickelt hat. Zwischen 2015 und 2018 haben laut einer Allensbach-Studie 55 Prozent der Bevölkerung in irgendeiner Weise Geflüchtete unterstützt, noch 2018 waren elf Prozent der Deutschen in der aktiven Flüchtlingshilfe engagiert. Im gleichen Zeitraum wurden die Asylgesetze enorm verschärft und die europäische Flüchtlingsabwehr wurde auf brutale Weise perfektioniert, ohne dass es zu nennenswertem Widerstand aus jener Zivilgesellschaft kam.

»Hilfe, die soziales Unrecht nur abfedert, schafft noch keine Veränderung der strukturellen Bedingungen von Not und Unfreiheit«, sie trage sogar »dazu bei, bestehende Ungleichheit zu stabilisieren«, sagte Gebauer, der mehr als 20 Jahre die Hilfsorganisation Medico International leitete. Echte Solidarität geht also einher mit einer Kritik an den Verhältnissen, die diese Zustände hervorbringen und dadurch die Hilfe erst notwendig machen. Erste Kampagnen wie #jetzterstrecht in Berlin, das Blog »Solidarisch gegen Corona« oder das linke Bündnis Plan de Choque ­Social in Spanien versuchen, Hilfe mit Gesellschaftskritik zu verbinden. Im Angesicht der Krisen, die uns noch bevorstehen, wird das umso wichtiger. Denn die Regierungen werden sich genau merken, welche Bereiche des ­Sozialstaats und der Grundversorgung auch zukünftig der Eigenverantwortung und Selbstorganisation der Bevölkerung überlassen werden können. Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner hat gegenüber der Bild-Zeitung bereits den ersten Aufschlag gemacht: »Daraus kann man auch für die Zukunft lernen. In Normalzeiten wird die Bevölkerung betüddelt und unterfordert.« Die Krise zeige, was im Land stecke, das müsse man sich bei anstehenden Reformen, auch in Bezug auf den Sozialstaat, vor Augen führen, so die un­verhohlene Drohung. Sozialdemokratischer, aber vom Inhalt her gleich, drückte sich die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli im Tagesspiegel aus: »Engagement ist systemrelevant!« Das stimmt, aber eben für ein System, das nicht das Wohlergehen und die Bedürfnisbefriedigung aller zum Zweck hat, sondern die ungleiche Verteilung von Ressourcen aufrechterhält und den Schaden, den es anrichtet, nach unten umverteilt, wodurch das Engagement erst relevant wird. Ohne ein Bewusstsein dieses Zusammenhangs ist Solidarität kein Vorschein des Besseren, sondern nur die privat organisierte Verwaltung des Elends, wie sie die neo­liberale Logik vorsieht.