Ein Gespräch mit der mexikanischen Soziologin Raquel Gutiérrez über Feminizide und den geplanten Frauenstreik in Lateinamerika

»Die Krise traf Frauen am härtesten«

Raquel Gutiérrez ist Professorin für Soziologie an der Benemérita Universidad Autónoma in Puebla (Mexiko) und hat an vielen unterschiedlichen gesellschaftlichen Kämpfen in Lateinamerika teilgenommen.
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Mexiko ist für Frauen eines der gefährlichsten Länder der Welt. 2019 gab es nach behördlichen Angaben fast 1 000 Feminizide. Was ist vor diesem Hintergrund für den Weltfrauentag am 8. März in Mexiko ­geplant?

Rund um diesen Tag, einen Sonntag, haben zahlreiche Gruppen zu Protes­ten aufgerufen. Es gibt gerade sehr viel Aufruhr, der sich insbesondere gegen geschlechterspezifische Gewalt, gegen alle Formen machistischer und patriarchaler Gewalt richtet. Es wird ein kraftvoller Tag werden, weil es eine riesige Bereitschaft der Frauen gibt, auf die Straßen zu gehen. Tausende Gruppen, Kollektive und Organistionen werden an den Demonstrationen teilnehmen.

Für den Tag darauf, den 9. März, sind die Frauen überall im Land zum Streik aufgerufen. Das Motto lautet »El nueve ninguna se mueve« (Am Neunten bewegt sich keine). Wir setzen derzeit alles daran, dass es ein bedeutender Streik wird, der wahrnehmbar macht, welche Arbeit wir Frauen leisten.

Die Proteste der Frauen in Mexiko sind in den vergangenen Monaten immer heftiger geworden, Denkmäler und Gebäude werden mit Graf­fiti überzogen, es kommt zu Zusammenstößen mit der Polizei. Woher kommt diese besondere Wut?

Das begann im August vergangenen Jahres. Damals wurde der Fall von Estefania bekannt, einer jungen Frau, die in Mexiko-Stadt von zwei Polizisten vergewaltigt wurde. Als sie dies zur Anzeige brachte, wollten die Behörden ihren Fall nicht als Vergewaltigung anerkennen. In diesem Moment im vergangenen August wurde aus der Empörung, die uns bereits zu einer Reihe von ­Aktionen gegen solche Gewalttaten und so weiter ermutigt hatte, Wut. Denn ihr Fall macht nicht nur die Gewalt gegen Frauen offenkundig, sondern auch den Verfallszustand der mexikanischen Institutionen, die herrschende Straflosigkeit. Es herrscht Verzweiflung, weil der Staat uns in keiner Weise schützt. Die Wut richtet sich gegen diese Gewalt, die in der gesamten Gesellschaft ­verbreitet ist, aber an den Körpern der Frauen besonders konkret wird.

Ist es die Gewalterfahrung, die Frauen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten eint?

Ja, es gibt nun eine allgemeine Bereitschaft der Frauen, trotz der Unterschiede zwischen ihnen gemeinsam zu protestieren, und sie erfahren in diesen Aktionen, dass es die Unterschiede sind, die sie zusammenführen und ihre Aktionen kraftvoller machen. Es gibt eine neue Fähigkeit, sich zusammenzuschließen, und eine Radikalität der Aktionen. Es herrscht ein allgemeiner Überdruss an der Taubheit der Regierung und der Justizbehörden, die nicht in der Lage sind, diese Fälle vor Gericht zu bringen.

In ganz Lateinamerika scheint der 8. März mittlerweile wichtiger zu sein als der 1. Mai. In Argentinien, wo derzeit erneut ein Gesetz zu Schwangerschaftsabbrüchen diskutiert wird, gibt es eine starke Frauenbewegung, und in Chile und Kolumbien ist Gewalt gegen Frauen ein wichtiges Thema der jüngsten sozialen Proteste. Warum ist die ­lateinamerikanische Frauenbewegung so stark?

Den feministischen Kämpfen ist es in ihrer enormen Vielfalt gelungen, die vom Patriarchat erzeugten Widersprüche wieder in das politische Leben einzubringen, das durch einen gewissen Glauben in diese entleerte Demokratie gefangen war; jene entleerte Demokratie, die keinen dieser Widersprüche auflöst und letztlich die Probleme vervielfacht. Es waren wir Frauen, die in der jüngeren Vergangenheit überall in Lateinamerika begonnen haben, darauf hinzuweisen, dass das, was geschieht, untragbar ist und nicht weiterhin als Normalität hingenommen werden kann. Dazu musste es an vielen Stellen erst einen Bruch, eine Krise der geschlechtergemischten Organisationen und Gruppierungen geben, weil in ihnen patriarchale Merkmale fortbestanden, die nun angefochten werden.
Die Kollektive von Frauen, die zuvor bereits existierten, wurden dann mit einer eine Vielzahl von antipatriarchalen Kämpfen und Bemühungen auf sehr unterschiedlichen Ebenen zusammengeführt. Dadurch begannen die gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten zu bröckeln, weil die feministischen Kämpfe diese in privaten und öffentlichen Bereichen auf vielerlei und nie dagewesene Art und Weise in Zweifel zogen. Ich denke, dass wir zu Beginn der nuller Jahre und durch viele Mobilisierungen neue politische Fähigkeiten erprobt haben, die den progressiven Regierungen Lateinamerikas den Weg geebnet haben.

In welchem Verhältnis standen oder stehen diese linken Regierungen zu den feministischen Kämpfen Lateinamerikas?

Diese Regierungen waren nicht in der Lage, das vom Neoliberalismus geerbte extraktivistische Regime zu überwinden. Sie verschlossen sich den Fähigkeiten der kommunitären Netzwerke, der indigenen Bevölkerung und der Bewegungen zur Verteidigung natürlicher Ressourcen, die es gegeben hatte und die viele dieser Regierungen an die Macht gebracht hatten. Die Probleme aber hörten nicht auf, und diejenigen, die die (wirtschaftliche, Anm. d. Red.) Krise am härtesten traf, waren Frauen. Bolivien (unter der Regierung von Evo Morales, 2006 bis 2019, Anm. d. Red.) ist beispielhaft dafür.

In welchem Zusammenhang stehen Neoliberalismus, der von Ihnen angesprochene Extraktivismus, also die Ausbeutung von Primärressourcen, und die feministischen Kämpfe?

Der antipatriarchale Kampf und der unbeugsame Feminismus müssen eine viel umfassendere Vorstellung davon haben, was das extraktivistische Modell bedeutet. In diesem werden natürliche Ressourcen ausgebeutet, Wasser wird verknappt, die Wälder werden abgeholzt, die biologische Vielfalt ist gefährdet, aber es gibt auch eine brutale Ausbeutung femininer Kräfte, femininer Fähigkeiten, die im Moment des Zusammenbruchs öffentlicher Dienstleistungen die Familien stützen. Es sind nicht die Männer, die sich um die Kranken und die Kinder kümmern, sondern wir Frauen.
Diese geschlechtsspezifische Ausbeutung lehnen sehr viele Frauen ab und diskutieren Veränderungsmöglichkeiten, auch gesetzliche. Da ist die Frage von (in Lateinamerika oft restriktiven Gesetzen zu, Anm. d. Red.) Schwangerschaftsabbrüchen oder inwiefern Gesetze gegen Gewalt förderlich sind. Hier in Mexiko gibt es beispielsweise eine breite Diskussion darüber, ob wir uns nicht von dem Modell verabschieden müssen, in der die Polizei unsere Sicherheit garantiert, ob wir uns nicht selbst schützen müssen. Daher unsere Parole »A mí me cuidan mis amigas, y no la policia« (Mich schützen meine Freundinnen und nicht die Polizei).

Die Idee des Frauenstreiks, wie er auch in Mexiko stattfinden soll, kommt ursprünglich aus Argentinien, wo 2017 erstmals einer stattfand. Er hat weltweit Nachahmung gefunden, vergangenes Jahr auch in Deutschland. Was macht ihn so erfolgreich?

Auch dieses Jahr gibt es viele Aufrufe von Feministinnen in Chile, Argentinien und Uruguay, am 8. März zu demonstrieren und am 9. in all diesen Ländern zu streiken. Damit können wir zeigen, dass die Herrschaft über die gesellschaftlichen Körper und die der Frauen mit der allgemeinen Gewalt zusammenhängt, dieser Gewalt heutiger Formen von Arbeit im real existierenden Kapitalismus, die die Gesellschaften zerreißt. Bei der Arbeit sind zwei Aspekte wichtig: zum einen die Prekarisierung, diese Überausbeutung, diese endlosen Arbeitstage, der Arbeitsrhythmus, der einen verrückt macht; und zum anderen die Verkennung reproduktiver Arbeit, der Care-Arbeit. Diese wird nach wie vor als eine natürliche Arbeitskraft gesehen, die einfach da ist, die aber weitgehend aus der Zeit und den Kräften und Energien der Frauen schöpft.

Worin liegt die Stärke des Streiks als Protestform?

Hiermit versuchen wir, Probleme miteinander zu verknüpfen, anstatt sie getrennt voneinander zu betrachten. Täten wir das nicht, würden sie so dargestellt, als ob sie unabhängig voneinander seien, als ob der Kampf der Frauen gegen jegliche Gewalt aufgehalten werden könne. Es ist gängig, die Gewalt gegen Frauen in Lateinamerika allein auf die Geschichte des lateinamerikanischen Machismo zu reduzieren; das ist aufgepfroft. Die Überausbeutung wird ­unterschiedlich erlebt, je nachdem, ob man einen männlichen oder einen weiblichen Körper beziehungsweise einen feminisierten Körper hat. Die ­Debatte, die wir Frauen führen, ist eine über allgemeine gesellschaftliche Transformation, und der Streik ist ein zentrales Element, mit dem wir versuchen, diese verschiedenen Probleme miteinander zu verknüpfen.

Was bedeuten die Proteste in der derzeitigen politischen Lage Mexikos, wo seit vergangenem Jahr der linke Präsident Manuel López Obrador regiert?

Die Regierung López Obrador begeht meines Erachtens denselben Fehler wie andere progressive Regierungen in Lateinamerika, den ich eben ansprach. Sie will sich als diejenige darstellen, die die politischen Stimmen und das politische Handeln monopolisiert. Die Regierung mag gute Absichten haben, aber sie verkennt die zahlreichen gesellschaftlichen Kräfte, die die Dinge verändern wollen und die Basis für ihren Wahlsieg im Juli 2018 waren.

Was den Streik am 9. März betrifft, hat die Regierung dazu aufgerufen, sich nicht daran zu beteiligen, weil er instrumentalisiert werde. Sie hat ihn als Protest gegen die Regierung dargestellt. Es tauchte eine ganze Menge vermeintlicher Verbündeter der feministischen Bewegung auf – Unternehmen, Interessenverbände, Lokalregierungen, Oppositionsparteien und so weiter –, die den Streik unterstützen, die aber aus unserer Sicht natürlich keine Verbündeten sind. Das führt zu einer enormen Verwirrung, in der ­autonome Äußerungen untergehen und die verhindert, dass über Inhalte gesprochen wird.