Der Konflikt in Großbritannien um die Sexualerziehung an Grundschulen

Aufklärung und Glaube

In Großbritannien schwelt ein Konflikt zwischen religiösen und säkularen Gruppen um die Sexualerziehung an Grundschulen.

Beim Thema schulische Sexualerziehung denken viele Briten derzeit an die populäre Fernsehserie »Sex Education«. In dieser hilft der nerdige Sohn einer Sexualtherapeutin an einer britischen Gesamtschule seinen Klassenkameraden durch ihre Beziehungskrisen. Die volle Bandbreite sexueller Neigungen ist vertreten, und die Serie plätschert in intelligentem und innovativem Unterhaltungsformat dahin.

Sexualerziehung und allgemeiner die Integration von britischen Antidiskriminierungsgesetzen wie dem Equa­lities Act in die Grundschulerziehung ist das Ziel Andrew Moffats. Dieser ist Lehrer und stellvertretender Schulleiter an der Parkfield-Schule in Birmingham. Seit 2014 unterrichtet er nach dem von ihm selbst entwickelte No-Outsiders-Lehrprogramm. In diesem geht es um Gleichheit und Differenz, auch um Rassismus. Unter anderem gibt es dort eine Bildergeschichte, in der einige Dachse fordern, dass alle Rehe aus dem Wald geworfen werden. Die meisten Kinder an der Schule stammen aus Familien mit pakistanischem Hintergrund, und sie lernen im Programm auch, wie sie auf Rassismus reagieren können. Das Programm stellt Moffat im Internet weitgehend kostenlos zu Verfügung. Nachdem es in einer landesweiten Schulevaluation positiv bewertet worden war, übernahmen es immer mehr Grundschulen in England und Wales.

Religiöse Gruppen aller Couleur argumentieren in Großbritannien für mehr Einfluss von Eltern in der Schulerziehung.

Docht an Moffats Schule kam es im vergangenen Jahr zu Protesten gegen das No-Outsiders-Programm. Stein des Anstoßes war die Diskussion über die Differenz sexueller Neigungen. Auch hier gibt es Bildergeschichten mit Tieren: Zwei Pinguine halten Händchen und werden ein Paar, beide sind männlich. Sie wünschen sich eine Familie und beginnen, einen Stein zu bebrüten. Ein Zoowärter, der sie beobachtet, gibt ihnen ein verlassenes Ei. Sie brüten es aus und ziehen das Kind auf. Die Geschichte im Lehrbuch fußt auf einer wahren Begebenheit im Zoo von New York City.

Konflikte beim Thema gleichgeschlechtlicher Beziehungen schwelen seit Jahren in Großbritannien. Im Februar 2019 eskalierte die Auseinandersetzung an der Parkfield-Schule und Hunderte Eltern nahmen ihre Kinder für ­einen Tag von der Schule. Daraufhin suspendierte Parkfield das Programm und suchte den Dialog mit den Eltern. Doch eine weitere Grundschule in ­Birmingham, die Anderson-Park-Schule, an der das Programm ebenfalls gelehrt wurde, weigerte sich, auf die Forderungen der Eltern einzugehen.

Die Schule wurde im Laufe des Frühjahrs Schauplatz regelmäßiger, eskalierender Proteste und Gegenstand einer landesweiten Debatte. Die Protestierenden argumentierten, dass Homosexualität kein für Kinder im Grundschulalter geeignetes Thema sei. Sie beschwerten sich auch, dass ihre religiös begründete Ablehnung von Homosexualität von der Schule nicht respektiert werde. Die Schule wiederum argumentierte, es sei wichtig, Kinder von gleichgeschlechtlichen Paaren nicht zu diskriminieren und frühzeitig zu vermitteln, dass diese gleiche Rechte haben.

Die schlagfertige Unterhausabgeordnete Jess Phillips von der Labour-Partei warf den Protestierenden Heuchelei vor: Sie könnten nicht die Anerkennung ihrer religiösen Ausrichtung fordern und zugleich die Anerkennung anderer in Frage stellen. Doch es gab auch Unterstützung für die Protestierenden. Die Unterhausabgeordnete Esther McVey, ehemalige Arbeits- und Rentenministerin von der Konservativen Partei, verlautbarte, Eltern sollten das letzte Wort haben, wenn es um Sexualerziehung der Kinder geht.

Nachdem die Proteste im Frühsommer 2019 eskaliert und einige Eltern und Lehrer bedroht worden waren, verhängte der Stadtrat von Birmingham ein Demonstrationsverbot im Bereich um die Schule. Der britische High Court beurteilte dieses Verbot im Oktober als rechtmäßig. Seitdem ist es in Anderton Park ruhiger geworden.

Doch die Schulerziehung bleibt einer der zentralen Konflikte zwischen dem säkularen Staat und religiösen Gruppen. Sowohl in Moffats Schule als auch in Anderton Park sind die große Mehrheit der Eltern und Kinder Muslime. Doch weder sind alle Eltern an den Schulen dort gegen die kontroversen Unterrichtsinhalte, noch sind alle Kritiker des No-Outsiders-Programms Muslime. Im Laufe der Debatte unterstützen fundamentalistische Christen und orthodoxe Juden die Protestierenden.

Religiöse Gruppen aller Couleur fordern mehr Einfluss von Eltern in der Schulerziehung. Besonders scharfe Kritik gibt es am Children and Social Work Act, einem neuen Gesetz, das sogenannte relationships education für alle Grundschulen ab September 2020 verpflichtend macht.

Die Kritik ist nicht auf öffentliche Schulen in migrantisch geprägten Vierteln britischer Innenstädte beschränkt. Auch viele religiöse Privatschulen in besseren Wohnlagen sind skeptisch. Politisch haben solche Tendenzen insbesondere bei den britischen Konservativen Tradition. Noch unter Margaret Thatcher hatte die britische Regierung in den achtziger Jahren in der Sektion 28 des Kommunalgesetzes Kommunalverwaltungen und Schulen verboten, »Homosexualität als eine Art Familienbeziehung darzustellen«. Das Gesetz wurde in den frühen nuller Jahren außer Kraft gesetzt. Unter Labour wurden Lehrprogramme landesweit modernisiert, eine Tendenz, die zunächst auch nach dem Regierungswechsel von 2010 anhielt, als der Konservative David Cameron Premierminister wurde.

Die Autonomie der Schulen ist in den vergangenen zehn Jahren allerdings größer geworden. Die vom ehemaligen konservativen Erziehungsminister ­Michael Gove betriebene Einführung sogenannter Akademien hat Schulleitungen und Eltern mehr Einfluss gegeben. Dadurch ist unter anderem die Zahl religiöser Schulen gewachsen.

Kritiker sehen im Akademie-Programm einen Rückzug des Staats aus der politischen Verantwortung für ­Erziehungsinhalte. So erklärt sich auch, dass die beiden Schulen in Birmingham unterschiedlich auf die Proteste antworteten. Dies ermöglicht es religiösen Gruppen, einzelne Schulen unter immensen Druck zu setzen. Andererseits ist auch Moffats No-Outsiders-Programm ein Ergebnis der größeren Autonomie von Schulen.

Die Autonomie der Schulen wird indes gesetzlich weiter verstärkt, auch im Hinblick auf die neue relationships education. Ministeriale Erlasse zum Children and Social Work Act schreiben nun vor, dass Schulen die Religion ­ihrer Schüler berücksichtigen sollen, wenn sie ihre Lehre in Sexualerziehung planen. Glaubensschulen können »ihre Glaubensüberzeugungen« in den Unterricht einfließen lassen. Säkulare, nicht heteronormative sex education wird es für einige britische Kinder und Jugendliche in Zukunft möglicherweise nur noch im Fernsehen geben.