In Kolumbien scheppern die Kochtöpfe. Bereits seit drei Wochen dauern die Massenproteste an, das auch in anderen lateinamerikanischen Staaten übliche rhythmische Schlagen des Kochlöffels auf den Metallboden einer cacerola ist bei Demonstrationen überall im Land zu hören. Insbesondere in den Städten – vor allem den drei wichtigsten: der Hauptstadt Bogotá, Medellin und Cali – kommt es immer wieder zu spontanen Protesten. Regelmäßig finden Straßenblockaden, Kunstaktionen und Demonstrationen statt. Am Sonntag kamen Medienberichten zufolge erneut mehrere Zehntausend Menschen zu Gratiskonzerten in Bogotá zusammen. Immer dabei: Kochtöpfe.
Was in Chile und Argentinien seit Jahrzehnten Ausdruck der Unzufriedenheit über steigende Lebenshaltungskosten ist, symbolisiert in Kolumbien die Wut der Menschen über die Missstände im Land, die auf mehrere Jahrzehnte Bürgerkrieg, eingeschränkte Demokratie und neoliberale Politik zurückgehen. Waren vor allem die Pläne zur »Flexibilisierung« des Arbeitsmarkts sowie die Reform des Renten- und Steuersystems Anlass eines nationalen Streiktags am 21. November, entwickelte sich der paro (Streik) bald zu einer Massenmobilisierung gegen die Regierung des rechten Präsidenten Iván Duque und die gesellschaftlichen Zustände im Allgemeinen.
Mittlerweile geht es um die anhaltende politische Gewalt im Land, die Ermordung sozialer Aktivisten und indigener Anführer, die unzureichende Umsetzung der Friedensvereinbarungen mit der ehemaligen Guerilla Farc und die ausbleibende Wiederaufnahme der Gespräche mit der Guerilla ELN. Die Proteste richten sich jedoch auch gegen etablierte oligarchische Machtstrukturen, soziale Ungleichheit, schlechte Gesundheitsversorgung, mangelnden Zugang zu Bildung und vieles mehr. Es sind nicht nur Gewerkschaftsanhänger, Indigenengruppen, Mitglieder von Basisorganisationen und Bauernverbänden sowie Umweltschützer, die auf die Straße gehen, sondern auch Menschen, die nicht politisch organisiert sind.
Zahlreiche Beobachter sehen die Stärke der Protestbewegung auch im Zusammenhang mit dem Friedensprozess und der Demobilisierung der Guerilla Farc.
»Das Interessanteste an dieser Bewegung ist, dass es sich im ganzen Land um dezentrale Demonstrationen handelt. Waren es in den vergangenen zehn Jahren immer soziale Organisationen, Gewerkschaften, Organisationen von Indigenen, Afrokolumbianern oder Kleinbauern, die zu den Protesten aufgerufen haben, gehen die Proteste diesmal über diese Gruppen und die Linke hinaus«, sagt der politische Analyst Alejandro Mantilla der Jungle World. Es seien vor allem junge Leute, die die Proteste trügen und organisierten.
Gerade bei ihnen vermengt sich ein ausgeprägtes Bewusstsein über politische und gesellschaftliche Missstände mit individueller Frustration. Nach Angaben des Nationalen Statistikinstituts Dane hat ein Viertel der 17- bis 24jährigen weder einen Studienplatz noch Arbeit. Der Zugang zu höherer Bildung bleibt vielen verwehrt und sie arbeiten meist, so wie rund 60 Prozent der Kolumbianer, in informellen Beschäftigungsverhältnissen. Elf Generationen bräuchte eine arme Familie in Kolumbien der OECD zufolge unter den derzeitigen Bedingungen, um aus der Armut in die Mittelschicht aufzusteigen. 70 Prozent der Kolumbianer, so eine aktuelle Gallup-Umfrage, sind der Ansicht, dass die Lage im Land sich im vergangenen Jahr verschlechtert habe.