Lahme Literaten

Matthias Politycki

Kolumne Von

Die Zeiten, da Literaten nicht ins Fitnessstudio gingen, weil Schöngeister nun mal lieber im Wald spazieren, Kammermusik hören oder zum Originaltext von Dantes »Göttlicher Komödie« den Takt schlagen, sind leider vorbei. Der Schriftsteller von heute »sieht drahtig aus, liegt nur noch zwei Pfund über seinem idealen Wettkampfgewicht« und will jeden Journalisten »sofort duzen«. Marathon-Training ist für ihn »eine Reinigung«, obwohl er dadurch beim Sex »nicht schneller« wird, für absolvierte »Tempoeinheiten« belohnt er sich mit »Schokolade mit 99 Prozent Kakaoanteil«, dieser »Erotik des Läufers«. Doch er läuft Marathon nicht nur in seiner Freizeit, er reicht über das, was ihm dabei durch den Kopf pfeift, auch gleich ein Buch hinterher. Das gliedert er statt in sieben oder zehn in 42,195 Kapitel und nennt es kühn selbstbezüglich: »42,195«. Weil er nicht nur in eigener Sache läuft, wählt er als Unterzeile: »Warum wir Marathon laufen und was wir dabei denken«, und verrät dem Spiegel, dem er auch über sein Wettkampfgewicht Auskunft gibt, worin die Analogie zwischen Laufen und Schreiben besteht: »Früher habe ich einiges verkehrt gemacht, ich bin etwa losgesprintet beim Schreiben. Da geht einem leicht mal die Puste aus. Beim Marathon kommt es darauf an, das Tempo konstant zu halten, beim Schreiben auch.«

Das Tempo hat Matthias Politycki, der »nach einer erfüllten Trainingseinheit« gleich »beschwingter« arbeiten kann, tatsächlich meist konstant gehalten, seit er 1987 mit »Aus Fälle/Zerlegung des Regenbogens«, einem – Achtung, Sprachspiel – »Entwickelungsroman« mit avantgardistischer Tendenz, debütierte, den die Presse zum Anlass nahm, ihn mit James Joyce zu vergleichen. Zwar schien es ihm nach dem Raketenstart angemessen, in gemächlicheren Trab zu fallen, weshalb er sich ­gegen die Anfeuerungen modernistischer Zaungäste mit dem Plädoyer für eine »Neue Lesbarkeit« verwahrte, doch trotzdem legte der »eminente Humorist« (Zeit) mit jedem folgenden Romanwerk einen Etappensieg hin. Der 1997 erschienene »Weiberroman« löste keinen Gegenwind wegen frauenfeindlicher Sprache, sondern Rückenwind durch die »78er-Generation« aus, die Politycki darin entdeckte und deren Besonderheit darin besteht, dass sie nicht mehr die 68er- und noch nicht die 89er-Generation ist. Acht Jahre später folgte »Herr der Hörner«, ein »Mammutroman« (FAZ) über die Konfrontation eines Europäers mit kubanischen Eingeborenen, weitere drei Jahre später »In 180 Tagen um die Welt«, ein »Schelmenroman« (Wikipedia) über Erlebnisse eines Finanzbeamten namens – Achtung Wortwitz – Johann Gottlieb Fichtl auf einem Kreuzfahrtschiff.

Nachdem er sich zum Reisedichter warmgelaufen hatte, legte Politycki 2013 mit »Samarkand Samarkand«, der »düsteren Dystopie« (Wikipedia) über einen Gebirgsjäger, der im Orient nach alten Knochen sucht, einen rasanten Spurt hin, von dem er sich seither durch ­lyrische Dips (»Das irre Geglitzer in deinem Blick«, 2015) und essayistische Push-ups (»Reduktion & Tempo«, 2017) erholt. Um das Gleichgewicht von Körper und Geist nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, hat er 2019 mit dem Jogging-Philosophen Andreas Urs Sommer (»Die Kunst, selber zu denken«) 2019 den Gesprächsband »Haltung finden« herausgebracht, in dem beide trotz Dissonanz in einer »kreativ-chaotischen Mitte« (Klappentext) zueinanderfinden. Nur die Frage, welches Tempo ­Polityckis Lesern angemessen ist, blieb bisher ungeklärt. Vermutlich wäre Speed Reading zu empfehlen.