Der »Ärzteappell« prangert die zustände an deutschen Kliniken an

Abrechnen mit dem Leidensdruck

Der von über 200 Organisationen und Medizinern unterstützte »Ärzteappell« sorgt derzeit für Diskussionen über den schlechten Zustand deutscher Kliniken und die Abrechnung auf Basis von Fallpauschalen. Die Wirkung ähnlicher Initiativen blieb in den ver­gangenen Jahren jedoch gering.

Mensch vor Profit – der Slogan ist zwar nicht neu, wirkt aber immer noch. ­Zumindest erhielt die Ausgabe des Stern, auf der in der ersten Septemberwoche diese Parole zu lesen war, ungewohnt große Aufmerksamkeit. Das Magazin veröffentlichte darin einen Appell von mehr als 200 Ärzten, der sich vor ­allem gegen die Zustände in deutschen Krankenhäusern richtet. Andere Medien griffen das Thema auf, auch in der ARD-Sendung »Menschen bei Maischberger« wurde der Appell diskutiert.

Wer die Abrechnung per Fall­pauschale in Kranken­häusern abschaffen will, muss mit Wider­stand rechnen.

Der Stern berichtete in der betreffenden Ausgabe zudem von unnötigen Operationen, von der mangelnden Zeit der Ärzte für den einzelnen Patienten und von dessen Reduktion auf einen ökonomischen Faktor. Dass die Zustände in den meisten Kliniken nicht gut sind, ist mittlerweile weithin bekannt – nicht nur, weil viele Menschen von ­eigenen unangenehmen Erlebnissen berichten können, sondern auch, weil die Beschäftigten in den vergangenen Jahren häufig gegen die Arbeitsbedingungen in einem System protestierten, in dem die sogenannten Fallpauschalen das Maß aller Dinge sind. So lautet auch eine grundlegende Forderung des im Stern abgedruckten »Ärzteappells«: »Das Fallpauschalensystem muss ersetzt oder zumindest grundlegend reformiert werden.«

Die Zahl der Unterzeichner steigt seit der Veröffentlichung kontinuierlich, neben einzelnen Ärztinnen und Ärzten haben sich mittlerweile auch etliche ganz unterschiedliche Organisationen angeschlossen, von den Landesärztekammern Berlin, Westfalen-Lippe, Niedersachsen und Hamburg über die Bundesvertretung der Medizinstudierenden Deutschland und den Berufsverband der Deutschen Chirurgen bis hin zu »Mezis e. V. – Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte« und zur »Gesellschaft anthroposophischer Ärzte in Deutschland«. »Die Liste der Unterzeichner ist in der Tat lang. Und sie deckt eine sehr große Bandbreite ab. Einige der Unterzeichner haben bis vor kurzem noch das bestehende System verteidigt. Die Initiative des Stern zeigt, wie groß der Leidensdruck mittlerweile ist«, sagt Nadja Rakowitz vom Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ) im Gespräch mit der Jungle World. Der VDÄÄ hat den Appell ebenfalls unterzeichnet. Dessen Befund ist eindeutig: »Das Diktat der Ökonomie hat zu einer Enthumanisierung der Medizin an ­unseren Krankenhäusern wesentlich beigetragen.«

 

Ähnliches ist von dem Bündnis »Krankenhaus statt Fabrik« seit Jahren zu hören. Die 2015 gegründete Orga­nisation fordert unter anderem: »Nicht die Gewinnmarge soll ausschlaggebend dafür sein, ob und wie wir behandelt werden, sondern allein der medi­zinische Bedarf!« Und sie wendet sich seit vier Jahren »gegen die Kommer­zialisierung des Gesundheitswesens in Deutschland und daher insbesondere gegen das System der Krankenhaus­finanzierung durch DRGs«. Anhand der Kategorisierung in Diagnosis Related Groups (DRG) wird seit 2004 jeder Erkrankung eine Fallpauschale zugewiesen. Die Kliniken erhalten je nach Diagnose und Behandlung einen bestimmten Betrag. Die Operation eines Bruchs ist in diesem System beispielsweise wesentlich lukrativer, als ein gebrochenes Bein zu schienen.

»Krankenhaus statt Fabrik« ist nicht die einzige Initiative dieser Art. Vor etwa zwei Jahren veröffentlichte die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) den »Klinik-Codex«. Da sich die Missstände nicht nur auf Krankenhäuser beschränken, benannten die Initiatoren den Aufruf schließlich in »Ärzte-Codex« um. Auch er enthält eine durchweg kritische Abrechnung mit dem deutschen Gesundheitssystem und stellt die ärztliche Pflicht zur Heilung und zur genauen Diagnose in den Mittelpunkt: »Wir werden unsere ärztliche Heilkunst ausüben, ohne uns von wirtschaftlichem Druck, ­finanziellen Anreizsystemen oder ökonomischen Drohungen dazu ­bewegen zu lassen, uns von unserer Berufsethik und den Geboten der Menschlichkeit abzuwenden.« Der Aufruf wird von einem ähnlich ­großen Bündnis unterstützt wie der »Ärzteappell« im Stern.

»Der Kodex ist in gewisser Weise tiefgründiger und argumentativ abgestimmter. Allerdings konnten wir trotz aller Bemühungen nicht die Öffentlichkeit herstellen, wie dies nun durch den ›Ärzteappell‹ gelungen ist«, sagt Ulrich Fölsch, der Generalsekretär der DGIM, im Gespräch mit der Jungle World. Der Schwerpunkt ist auch ein anderer als beim Appell des Stern. Der »Ärzte-­Codex« kann von einzelnen Ärzten unterzeichnet werden, die dann eine Urkunde erhalten, die ihnen bescheinigt, im Sinne des Kodex zu handeln. »Er soll den Kollegen und Kolleginnen den Rücken gegenüber den kaufmännischen Direktoren in den Kliniken stärken. Die Denke muss sich dringend ändern. Wir brauchen einfach wieder eine sprechende Medizin, die sich Zeit für den Patienten nimmt«, so Fölsch.

 

Der »Ärzteappell« richtet sich hingegen eher an die Öffentlichkeit und fordert politische Maßnahmen. Es gibt bereits positive Reaktionen. »Die Gesundheitsversorgung muss sich nach dem Bedarf der Patientinnen und ­Patienten und nicht nach betriebswirtschaftlichen Anreizen richten«, sagte etwa Maria Klein-Schmeink, die gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen, nach der Veröffentlichung.

Trotz des vielen Zuspruchs für den »Ärzteappell« gibt es sie nach wie vor: die Verteidiger der Fallpauschalen. Die gesundheitspolitische Sprecherin der Unionsfraktion, Karin Maag, warnte in der Ärztezeitung vor einer grundlegenden Veränderung des Abrechnungssystems und machte andere Gründe für die Misere aus: »Wesentlich ist nicht die Art der Abrechnung, sondern wie manche Kliniken sie missbrauchen.« Auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) erhob Einspruch gegen den Appell. »Der Wunsch, die Krankenbehandlung von der Finanzierung des Krankenbehandlungssystems zu entkoppeln, mag sozialethisch ehrenwert sein, er führt in der Realität, wie viele staatsfinanzierte Gesundheitssysteme zeigen, aber zu keiner besseren Versorgung. Die Gesundheitswesen der sozialistischen Länder und das englische Gesundheitssystem machen dies mehr als deutlich«, sagte Georg Baum, der Hauptgeschäftsführer der DKG.

Wer die Abrechnung per Fallpauschale abschaffen will, muss also mit Widerstand rechnen. Der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat sich ­bislang nicht zum »Ärzteappell« geäußert. Unabhängig vom Abrechnungssystem, von Appellen und Kodizes könnten Mediziner jedenfalls auf bekannte ethische Grundsätze zurückgreifen: auf den Hippokratischen Eid. Er stellte ­bereits vor über 2 000 Jahren folgende Maxime auf: »Meine Verordnungen werde ich treffen zu Nutz und Frommen der Kranken, nach bestem Vermögen und Urteil; ich werde sie bewahren vor Schaden und willkürlichem Unrecht.«