Zwangsarbeit in Belarus

»Das ist praktisch Sklavenarbeit«

Wer in Belarus mit Marihuana erwischt wird, kann für zehn Jahre in der Strafkolonie verschwinden. Das Regime lockt Jugendliche bewusst in die Falle, um sie als Zwangsarbeiter auszubeuten, sagt Olga Karatsch.
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Frau Karatsch, ihre Organisation Nasch Dom (Unser Haus) kümmert sich derzeit vermehrt um Jugend­liche, die wegen Drogenbesitzes im Gefängnis sind. Was sind das für Fälle?
Gerade haben wir eine Liste von 32 nach Paragraph 328 des Strafgesetzbuchs wegen Drogenhandels verurteilten ­Jugendlichen an Präsident Lukaschenko geschickt. Wir fordern deren Begnadigung im Rahmen einer Amnestie, weil wir die Urteile für ungerecht halten. Auch vermuten wir, dass es eine gezielte Politik seitens der Regierung gibt, junge Menschen mit diesem Paragraphen zu kriminalisieren.

Sitzen viele Menschen in Belarus wegen Drogen ein?
Schätzungsweise zwischen 12 000 und 18 000 Menschen im Alter von 14 bis 29 Jahren sind wegen dieses Artikels inhaftiert. Viele von denen, die wir ­betreuen, waren bei der Verhaftung minderjährig. Wir vermuten, dass das häufig der Fall ist. Insgesamt sollen etwa 34 000 Menschen in belarussischen Strafkolonien einsitzen, aber die offiziellen Statistiken sind oft irreführend (Belarus hat etwa neuneinhalb Millionen Einwohner, Anm. d. Red.). Früher wurde der Paragraph 328 kaum angewandt. In den neunziger Jahren saßen deswegen ein paar hundert Menschen ein.

Wie erklären Sie diesen Anstieg und auch die hohen Haftstrafen?
Wir können uns das nur so erklären, dass Lukaschenko für den Export nach Europa produzieren lässt. In den ­Gefängnissen gibt es Fabriken, in denen etwa Fahrzeugteile und andere hochwertige Produkte hergestellt werden. Die Strafvollzugsabteilung des Innen­ministeriums wirbt sogar öffentlich damit, dass sie Waren in 21 Länder exportiert – auch nach Deutschland. ­Dadurch bekommt Belarus eine Menge Devisen. Die Löhne, die in den Straf­kolonien bezahlt werden, sind lächerlich. Manchmal entsprechen sie 30 Eurocent im Monat, manchmal ist es rein gar nichts. Das ist praktisch Sklavenarbeit.

Was wird den Jugendlichen, die Sie betreuen, vorgeworfen?
Häufig geht es um den Besitz geringer Mengen an Marihuana, doch die Strafen fallen drakonisch aus: Es stehen zehn Jahre Haft darauf, weil schon gemeinsamer Konsum als »Bandenkrimina­lität« gewertet wird. In den Fällen, die wir betreuen, wurden die jungen Leute oft in eine Falle gelockt. Sie werden auf Partys von Unbekannten zum Drogengebrauch animiert, manche gehen darauf ein, manche nicht. Am Ende werden alle verhaftet, die auf der Party waren. Wir kennen auch Fälle, bei denen jemand Jugendlichen in den sozialen Netzwerken einen Job anbietet. Er wird ­gebeten, eine Kopie seines Ausweises zu schicken, und bekommt eine Art ­Arbeitsvertrag. Der Jugendliche erledigt seinen ersten Kurierdienst und anschließend wird er festgenommen.

Wie sehen diese Verhaftungen aus?
Oft sind sie sehr brutal und die Eltern werden zunächst nicht informiert. Dabei müssen nach dem Gesetz bei der Verhaftung von Minderjährigen deren gesetzliche Vertreter eingeschaltet werden. In anderen Fällen kommt die Polizei nachts in die Wohnung und verhaften den Jugendlichen. Auf der Wache sagt ein Anwalt dann, der Ver­haftete solle diese und jene Papiere unterzeichnen, dann könne er nach Hause. Die Jugendlichen kennen ihre Rechte zumeist nicht. Sie glauben fast immer einfach dem erwachsenen Anwalt.

Für zehn Jahren in die Strafkolonie

Was sind das für Anwälte?
Die Jugendlichen bekommen in der Regel einen Pflichtverteidiger gestellt, aber unabhängige Anwälte gibt es in Belarus genauso wenig wie unabhängige Gerichte. Die Anwaltszulassung vergibt das Justizministerium. Und diese kann aus beliebigen Gründen ent­zogen werden. Wenn ein Anwalt seine Mandanten zu aktiv verteidigt, dann kann es vorkommen, dass er die Zulassung verliert. Das bekommt man oft zu hören. In den meisten Fällen ist der Anwalt auf der Seite der Staatsanwaltschaft.

Und wie geht es dann weiter?
Die Jugendlichen unterschreiben meist ein Geständnis, dass sie Drogen aus­geliefert haben. Hinterher werden sie dann aber nicht, wie ihnen zuvor sug­geriert wurde, freigelassen, sondern kommen bis zum Prozess in Unter­suchungshaft. Den Gerichten reicht das Geständnis als Beweis. Dann erhalten sie eine Strafe von acht bis zehn Jahren in einer sogenannten Strafkolonie.

Was ist mit dem Arbeitgeber, der ­Jugendliche als Drogenkuriere anwirbt? Ihre Organisation geht ­davon aus, es handle sich um eine Falle der Polizei.
Ja. Denn es gab erst einen Fall, bei dem auch einer der Hintermänner vor Gericht stand. Ansonsten konnten die Hintermänner angeblich nie ermittelt werden.

Kann man gegen dieses System irgendwie ankämpfen?
Ein Problem ist, dass Anwälte die ­Jugendlichen und ihre Eltern fast immer schlecht beraten und nicht ver­teidigen. Die Angeklagten sollen sich bloß nicht beschweren und alles seinen Gang gehen lassen. Sonst würde alles nur noch schlimmer werden. Nur ist unsere Erfahrung eine ganz andere. Während des Prozesses kann man etwa durch Beschwerdeschreiben an die Behörden noch viel erreichen. In einem Fall haben wir durch Beschwerdeschreiben erreichen können, dass ein Jugendlicher, statt zu den üblichen acht bis zehn Jahre Strafkolonie ver­urteilt zu werden, mit zweieinhalb Jahren Hausarrest davonkam.

Sind unter den nach Paragraph 328 Verurteilten auch Mädchen?
Sogar ziemlich viele. Aber die Eltern kämpfen viel weniger um sie. Wir ­kennen kaum Eltern, die sich für Mädchen so einsetzen wie für Jungen. Oft werden die Mädchen einfach verstoßen, sobald sie im Gefängnis sind. Ich weiß nicht, warum das so ist – das hat wohl etwas mit den patriarchalen Strukturen unserer Gesellschaft zu tun.

Was kann die EU Ihrer Meinung dagegen tun?
Ich denke, die Hauptmotivation für diese sehr hohe Zahl von Verurteilungen ist eine ökonomische. Wenn die EU einfach den Markt schließen würde für Produkte, die womöglich in den Strafkolonien produziert werden, dann würde die Regierung das Vorgehen vermutlich sehr schnell ändern. Die EU würde eine solche Handelssperre kaum bemerken, Belarus aber sehr wohl. ­Zumindest würde die Regierung wohl einen angemesseneren Lohn für die arbeitenden Häftlinge einführen, wenn die EU das fordert.

Bisher hat sich kein wichtiger EU-Beamter dazu geäußert. Warum?
Das Thema ist bislang kaum bekannt. Nasch Dom hat erst im September 2018 angefangen, sich damit zu befassen, und wir haben selbst eine Weile gebraucht, um ein Bild davon zu bekommen, was da los ist. Auch die EU sollte es als ein Problem ansehen, dass in einigen Jahren wohl eine sehr große Zahl dieser jetzt einsitzenden »Dreihundert­achtundzwanziger« aus dem Gefängnis entlassen wird. Das sind Menschen meist ohne Bildungsabschlüsse, die kaum eine Perspektive auf legale Arbeit in Belarus haben. Sie werden von einer äußerst brutalen Gefängniskultur ­geprägt sein, in der Folter und Gewalt alltäglich sind. Es entsteht ein sozialer Sprengstoff, der in einigen Jahren wie eine Bombe losgehen kann.


Olga Karatsch lebt in Minsk und ist Direktorin der belarus­sischen Menschenrechtsorganisation »Nasch Dom« (Unser Haus). Diese arbeitet in 18 Städten in Belarus und dokumentiert dort Menschenrechtsverletzungen und Korruption. Mit der »Jungle World« sprach sie über die Situation von in Belarus wegen Drogenbesitz inhaftierten Jugendlichern. Die Strafvollzugsabteilung des Innenministeriums von Belarus wirbt derzeit auf ihrer Website (en.mvd-din.by) auf Englisch und Russisch mit in belarussischen Gefängnissen hergestellten Waren, darunter Werkzeug, Maschinenteile, Sportartikel und Möbel.