Coming-out der Leichtathletin Dutee Chand

Lieben, wie man will

Die Weltklassesprinterin Dutee Chand hat sich in Indien öffentlich dazu bekannt, eine Frau zu lieben. Seither ist sie für viele zur Hassfigur geworden. Ein Coming-Out ist in dem konservativen Land noch immer lebensgefährlich.

Es hat beinahe symbolischen Charakter, wie sich das Leben von Dutee Chand in ihrem Heimatort zweimal von Grund auf veränderte. Das erste Mal war im Jahr 2013, als die Leichtathletin bei den indischen U-18-Meisterschaften die 100 Meter schneller lief als ihre Konkurrentinnen. Chand, heutzutage eine der bekanntesten Sportlerinnen Indiens, kam damals groß raus, und es war eine ziemlich unwahrscheinlich anmutende Aufstiegsgeschichte.

Geboren und aufgewachsen im ländlichen Bundesstaat Odisha, in einer für ihren Strand bei Toursiten beliebten Kleinstadt namens Gopalpur, als Tochter einer armen, kinderreichen Weberfamilie, schaffte Chand es an die sportliche Spitze ­Indiens. Der Aufstieg sorgte bei den 6 660 Einwohner ihres Heimatorts für Begeisterung, zumal es sich auch um eine ökonomische Erfolgsgeschichte handelte. Plötzlich schaute der ganze Subkontinent nach Gopalpur. Und dort gab es Festumzüge und Empfänge für die berühmteste Tochter des Städtchens, die zum Vorbild geworden war.

»Es ist für uns alle beschämend, wir können diese Beziehung nicht akzeptieren.«

Sechs Jahre später hat sich die Stimmung dramatisch verändert. »Wir haben solche Dinge nur in Filmen gesehen. So verhalten wir uns hier nicht. Sie war eine von uns, aber sie hat uns enttäuscht«, sagte eine 21jährige Kleinstadtbewohnerin der Times of India. Chands Leben hat sich ein zweites Mal von Grund auf veränderte: In einem Interview hat sie im Mai bekanntgegeben, dass sie in einer Beziehung mit einer Frau sei. Es war das erste Coming-out einer bekannten indischen Sportlerin überhaupt und es machte international Schlagzeilen.

Der verschworenen Gemeinschaft von Gopalpur passte das ganz und gar nicht. Denn hier ging es ums Individuum, nicht ums Kollektiv, und um Widerstand gegen konservative Traditionen im ländlichen Indien. »Es ist beschämend für uns alle«, sagte ein Mann aus Gopalpur, der anonym bleiben wollte, dem britischen Guardian. »Wir haben ihre Läuferkarriere die ganze Zeit unterstützt, aber wir können diese Beziehung nicht ­akzeptieren.«

Ein Coming-out ist gefährlich. Erst im Mai ist eine lesbische Frau von Dorfbewohnern an einen Baum gebunden und verprügelt worden.

So ähnlich sehen das offenbar auch Familienmitglieder der Leichtathletin: Chands Vater bezeichnete die Beziehung in der indischen Presse als unmoralisch und unethisch. »Sie hat den Ruf unseres Dorfes zerstört«, sagte er über seine Tochter. Ungefährlich ist ein Coming-out nicht: Erst im Mai war eine lesbische Frau im Bundesstaat Odisha von Dorfbewohnern an einen Baum gebunden und verprügelt worden.

Der Fall ist noch aus anderen Gründen vielsagend. Die internationale Presse, die sich wesentlich mehr für sexuelle Identitäten als für Wirtschaftskritik interessiert, hatte von Chands erstem Triumph keine Notiz genommen. Indische Webertöchter bei den Olympischen Spielen (2016 in Rio de Janeiro) – darüber wird eher selten medial berichtet.

Bittere ­Armut, fehlende Infrastruktur und Aufstiegschancen, nicht zuletzt das enorme Risiko, das Athletinnen aus ärmeren Schichten gerade in Ländern wie Indien mit einer Sportkarriere eingehen, werden kaum thema­tisiert. Sexuelle Befreiungskämpfe sind medial viel besser verwertbar, weil vermeintlich näher und übertragbarer, und niemand muss die wirtschaftliche Ordnung hinterfragen. Dabei hängen beide Probleme zusammen. Eine Athletin wie Chand muss möglicherweise nach der Kar­riere in die ländlichen Verhältnisse zurück. Auf dem Dorf, wo es kaum Verdienstmöglichkeiten gibt, zählt das Diktat der Gemeinschaft. Ihre Partnerin, ebenfalls aus einer armen Weberfamilie stammend, hat Gopalpur mittlerweile verlassen, um den Schmähungen und dem von den Medien geschürten Aufruhr zu entkommen.

Dass Chand kämpfen kann, hat sie allerdings von Kindheit an bewiesen. Die Times of India berichtete, wie die Sportlerin trainierte. Auf den Sandbänken des Flusses habe sie ihre Sprints absolviert, auf den ­holprigen Straßen sei sie gejoggt. Chand habe genau gewusst, dass die Alternative für sie ein Leben in Armut am Webstuhl gewesen wäre.

Im konservativen Indien war das öffentliche Coming-out eine Sensa­tion.

Es gab weitere Hürden: Ähnlich wie die südafrikanische Mittelstreckenläuferin Caster Semenya hat Chand im Vergleich zu anderen Frauen ­einen ungewöhnlich hohen Testosteronspiegel; zeitweilig wurde sie für Wettkämpfe gesperrt. Aber wer es von Gopalpur an die indische Spitze geschafft hat, lässt sich nicht vom Weltleichtathletikverband IAAF aufhalten. Die Läuferin ging gegen die Sperre vor Gericht, und im Juli 2015 gab der Sportgerichtshof CAS ihr recht. Die IAAF hatte nicht belegen können, dass Chand über 100 und 200 Meter aufgrund ihrer Testosteronwerte einen außergewöhnlichen Vorteil hatte. Es war ein Urteil mit ­internationaler Tragweite, seither läuft die indische Starsprinterin wieder. Mit großem Erfolg: Landes­rekord über 60 und 100 Meter, Olympiateilnahme 2016, zwei Silber­medaillen bei den Asien-Spielen 2018. Und Ende Mai 2019 folgte dann ein weiterer, anderer Kampf um ihre Zukunft.

»Ich habe eine Frau gefunden, die meine Seelenverwandte ist«, sagte Chand dem Indian Express. »Ich bin der Meinung, jeder Mensch hat das Recht, in einer Beziehung zu sein, mit wem er will. In Zukunft würde ich gern mit ihr zusammenziehen.« Seit drei Jahren sei sie mit ihrer ebenfalls aus Gopalpur stammenden großen Liebe zusammen. Den Namen der jungen Frau wolle sie aus Sicherheitsgründen nicht bekanntgeben. Im konservativen Indien war das öffentliche Coming-out eine Sensa­tion. Es geschah allerdings nicht aus freien Stücken, und die Umstände sind bedenklich. Denn als sie ihrer Familie von ihrer lesbischen Beziehung berichtet habe, so Chand, ­seien die Eltern schockiert gewesen. Die älteste, innerhalb der Familie sehr einflussreiche Schwester habe gedroht, sie aus der Familie zu ver­stoßen und ins Gefängnis zu bringen – wie sie es zuvor, so Chand, ­bereits mit einem ihrer Brüder versucht habe, weil sie dessen Ehefrau nicht habe ausstehen können. Ein selbstbestimmtes Coming-out ist das nicht. »Freie Wahl und die Freiheit, zu lieben, wen ich will, sind meine unumstößlichen Rechte, und ich mache davon Gebrauch«, betont Chand dennoch. »Ich habe jetzt meinen Frieden gefunden.«

Erst im vergangenen Jahr, am 6. September 2018, hat das Oberste Gericht Indiens ein Gesetz aus Kolo­nialzeiten für verfassungswidrig erklärt, das gleichgeschlechtlichen Sex unter Strafe stellte. Bis zu zehn Jahre Gefängnis drohten bei Zu­widerhandlung. Einem Bericht des Guardian zufolge wurden zwar ­faktisch kaum Homosexuelle verurteilt; viel problematischer sei es aber gewesen, dass das Gesetz viele Fälle von Missbrauch und Misshandlung von Schwulen und Lesben durch die Polizei zur Folge hatte. ­Daran habe sich bisher kaum etwas geändert. In den Städten wachse die Liberalität; bei der Landbevölkerung jedoch gebe es immer noch breite Unterstützung für eine Bestrafung von gleichgeschlechtlichem Sex.

Chand hat sich bislang nicht als lesbisch identifiziert. »Ich habe nur gesagt, ich bin in einer Beziehung mit einer Frau«, sagte sie kürzlich. Die Ablehnung aus dem Dorf sei nicht aggressiv, versicherte sie, die Menschen dort wüssten es einfach nicht besser. »Ich gebe meinen Eltern Zeit. Schritt für Schritt, wenn sich die mediale Aufregung gelegt hat, werden sie lernen, mich zu ver­stehen. Alle aus dem Dorf werden lernen, mich zu verstehen.« Eine vielleicht etwas naive, aber auch sehr mutige Herangehensweise.